Punk als authentisches und hedonistisches Ausdrucksmittel für politische Verweigerung und Protest in einem Klima der allgegenwärtigen
Gewalt
1976 überzog und provozierte Punk das Vereinigte Königreich und stellte für einen kurzen Moment viele der kulturellen und sozialen Annahmen der britischen Gesellschaft infrage, schockierte die
öffentliche Meinung und löste in der Folge einen Ausbruch moralischer Panik aus.
In Nordirland waren die Menschen mit anderen Problemen beschäftigt:
1976 war das Jahr, in dem die Internierten des Maze-Gefängnisses1 nach dem Verlust ihres Status als politische Gefangene in Hungerstreik
traten; die „Schlächter von der Shankill Road“2 durchstreiften die Straßen von Belfast und machten Jagd auf Katholiken; eine Mutter
beschloss die Gründung der Organisation „Peace People“3, nachdem sie den Tod von drei Kindern miterlebt hatte, die von einem flüchtigen
IRA-Mitglied überfahren worden waren. Im Jahr 1976 kamen insgesamt 297 Menschen durch den gewalttätigen Konflikt ums Leben. Alle Nachrichtenberichte über Nordirland in diesem Jahr schienen darauf
hinzudeuten, dass in Großbritannien Anarchie herrschte.
Es ist diese ‚andere Nation‘ von gewöhnlichen Individuen, die mit dem Druck des zutiefst gespaltenen Landes zu kämpfen haben, die im Mittelpunkt dieses Artikels steht, oder – genauer gesagt – die
gewöhnlichen Jugendlichen – viele von ihnen im Schulalter – die an einer außergewöhnlichen musikalischen Subkultur teilnahmen, die ihnen half, ihren Alltag im sozialen Brennpunkt auf eine Art und
Weise zu gestalten, die mit den Werte- und Normenprinzip der Gesellschaft in Konflikt geriet und diese manchmal untergrub: Punk.
Mitte der 1970er Jahre verschaffte Punk jungen Menschen, die in dieser politisch turbulenten Atmosphäre aufwuchsen, eine kurze Atempause. Katholiken und Protestanten kamen unter dem Banner der
Anti-Establishmentbewegung zusammen.
Paramilitär und Punk - die unterschiedlichen Wege der Troubles-Jugend
Simon Frith4 hat darauf hingewiesen, dass die Wissenschaftler zwar dem Kino, dem Fernsehen, den Zeitungen und sogar der Werbung zunehmend Aufmerksamkeit schenken, dass aber vergleichsweise wenig über Musik geschrieben wurde, obwohl „die Muster der Musiknutzung eine bessere Karte des gesellschaftlichen Lebens liefern als die Seh- oder Lesegewohnheiten.“ Dies gilt im Kontext der irischen Studien, trotz der Verbindung der Insel mit der Musik, von den irischen Melodien von Thomas Moore bis hin zum Mainstream-Erfolg traditioneller irischer Musik oder Rockbands, obwohl in den letzten Jahren mehrere Wissenschaftler versucht haben, dieses Ungleichgewicht zu korrigieren. Gerry Smyth5 sagte, „wird es in einer historischen Formation, in der sie als Identitätsindex eine so herausragende Rolle spielt, unerlässlich, die Rolle der Musik bei der Bildung von Diskursen der Macht und Subversion zu verstehen.“
Musik aus Irland wird im Allgemeinen mit traditioneller irischer Musik (Irish Folk) oder mit Bands, die sich der gemeinsamen keltischen Wurzeln bedienen, in Verbindung gebracht, aber Punkrock,
ein Genre, das – abgesehen von den effekthaschenden Klängen keltischer Punkbands der Diaspora am Ende des 20. Jahrhunderts – wenig mit dem Irischen assoziiert wird, spielte eine bedeutende Rolle
im Alltagsleben eines Teils der Jugend Nordirlands und negierte die Diskurse des unionistischen Exzeptionalismus und des republikanischen Idealismus.
Die Phase des komplexen sozialen und politischen Nordirlandkonflikts, der oft als „die Unruhen“ bezeichnet wird, begann 1969 und dauerte bis in die 1990er Jahre, forderte über 3.500 Todesopfer
und spaltete die katholische und die protestantische Gemeinschaft auf bittere Weise. Mit politischen und religiösen Wurzeln, die weit in die Vergangenheit zurückreichen, betraf er Paramilitärs,
Politiker, Mitglieder der britischen Sicherheitskräfte und einfache Bürger. Die Gesellschaft war in zwei gegensätzliche hegemoniale Blöcke geteilt, die aufgrund ihrer unvereinbaren Bestrebungen
in einer Sackgasse zu stecken schienen.
Die Unionisten-Loyalisten, von denen die meisten Protestanten waren, wollten, dass die Region ein Teil des Vereinigten Königreichs bleibt, hingen an der britischen Krone, an einem Gefühl von
Britishness und hatten nach Jahrhunderten des Lebens auf der Insel als privilegierte Minderheit eine Belagerungsmentalität entwickelt. Die nationalistischen Republikaner, mehrheitlich katholisch,
wollten der institutionalisierten Diskriminierung ein Ende setzen und wünschten die Errichtung einer inselweiten irischen Republik.
Der Ausbruch des Konflikts im Jahr 1969 traf die beiden kulturellen Zentren Nordirlands, Belfast und Derry, unverhältnismäßig stark, und das städtische Kulturleben kam fast über Nacht zum
Erliegen. Internationale Bands schlossen den Norden nicht mehr in ihre Musiktourneen ein – bis 1977 waren Rory Gallagher und Horslips die einzigen Bands
außerhalb der Region, die Belfast konsequent in ihre jährlichen Tourneen durch Irland einbezog – und auch die lokalen Szenen litten unter der Eskalation des Konflikts.
Nachbarschaften wurden zunehmend getrennt, da Katholiken und Protestanten, die in den Jahren vor Beginn des Konflikts friedlich zusammenlebten, sich dafür entschieden oder gezwungen waren,
umzuziehen und unter ihren Ko-Religionisten zu leben. Der Bau von ‚Friedenslinien‘ materialisierte die Trennung zwischen den Gemeinschaften. Aus Angst um ihre Sicherheit verließen die Menschen
selten nachts ihre Viertel und in Belfast wurden die wenigen Menschen, die bereit waren, sich in die Stadt zu wagen, mit Eisenstangen und Zaunlatten empfangen. Da viele Kneipen und Kinos nun
unzugänglich waren, beschränkte sich das Nachtleben meist auf die Bälle und Kabaretts, die in Hotels außerhalb der Stadt stattfanden.
So sahen sich die Jugendlichen nicht nur mit der Langeweile und der Arbeitslosigkeit konfrontiert, die sie mit ihren Altersgenossen im Ausland teilten, sondern auch mit Sektierertum, Gewalt,
Chancenlosigkeit und einer ihrer Folgen: einer stark unterentwickelten kulturellen Infrastruktur. Bis Mitte des Jahrzehnts hatte sich die Situation verschlechtert. 1975 wurden drei Mitglieder
einer beliebten Miami-Showband6 auf dem Rückweg nach Dublin von der loyalistischen paramilitärischen Ulster Volunteer
Force erschossen. Der Vorfall schockierte die Öffentlichkeit nördlich und südlich der Grenze. Zum ersten Mal war gezielt eine Pop-Band von außerhalb Nordirlands ins Visier genommen
worden.
Die Morde hielten nicht nur internationale Acts davon ab, sich in den Norden zu wagen, sondern hatten auch Auswirkungen auf die lokalen Musiker. Am 3. Dezember 1976 berichtete der Belfast
Telegraph, dass einige Musiker als langfristige Folge des Vorfalls Schwierigkeiten hatten, finanziell zu überleben, weil sie nicht mehr bereit waren, das Risiko einer langen Reise auf sich zu
nehmen, während andere begannen, nur noch in ihren eigenen Gemeinden aufzutreten. In Verbindung mit der Tatsache, dass nur wenige oder gar keine lokalen Pop-Bands neues Material produzierten,
wurde die Region zu einer musikalischen und kulturellen Ödnis.
Die Jahre von August 1971 bis Dezember 1976 erwiesen sich als die gewaltsamste Phase des Konflikts. Und obwohl die Tötungen bis weit in die 1990er Jahre andauerten, waren die Straßen Nordirlands
ab 1977 relativ sicher. Dies ermöglichte die Entwicklung einer neuen Jugendsubkultur.
Es war Terri Hooley, Musikliebhaber, überzeugter Pazifist, Rebell und Langzeit-Hippie, der der totgesagten Musikszene in Belfast neues Leben einhauchte. Vom Terror der Paramilitärs ließ er sich nicht einschüchtern und eröffnete 1978 in der damals wie ausgestorben wirkenden Innenstadt von Belfast einen eigenen Plattenladen: „Good Vibrations“ – ausgerechnet in der Great Victoria Street, in unmittelbarer Nähe des berüchtigten Hotel Europa, wo fast täglich Bomben hochgingen. Wahnsinn und Genie gehen hier Hand in Hand, wie man auch in Terri Hooleys autobiografischen Film „Good Vibrations“ erkennen kann. Den Troubles kulturell etwas entgegenzusetzen, Belfast vor allem für die jüngere Generation wieder lebenswert zu machen und sich dabei politisch von keinem der am Nordirlandkonflikt beteiligten Parteien vereinnahmen zu lassen.
Bands wie Stiff Little Fingers und die Undertones waren Pioniere des nordirischen Punk. Der Song ‚Alternative Ulster‘ von SLF sagt alles darüber, was die Kids damals in Nordirland bewegte.
„Nothin’ for us in Belfast. The Pound’s old and it’s a pity. OK, there’s the Trident in Bangor. Then walk back to the city. We ain’t got nothin’ but they don’t really care(...)Is an Alternative Ulster. Grab it and change it, it's yours(...)Ignore the bores and their laws. Get an Alternative Ulster. Be an anti-security force(...)“
Mit wenigen Ausnahmen wie Stiff Little Fingers thematisierte kaum eine Punk-Band die Troubles in ihrer Musik. Mit ihren politisch ambitionierten Songs ernteten Stiff Little Fingers in
der Punk-Szene sogar Spott und Häme. Nicht zuletzt, weil ihnen vorgeworfen wurde, dass ihre Songtexte gar nicht von ihnen stammten, sondern aus der Feder ihres befreundeten englischen
Journalisten, Gordon Ogilvie. Im Gegensatz dazu hatte die protestantische Punk-Band Ruefrex um Paul Burgess und Alan Clarke mehr Erfolg: Ihnen
gelang mit ‚The Wild Colonial Boy‘ der Aufstieg in die britischen Top Singles Chart. Darin kritisierte die Band, dass sich Iren, die in die USA ausgewandert waren, für die Militanz
paramilitärischer Gruppen begeisterten und diese auch noch finanzierten: „It really gives me such a thrill to kill from far away!“
Die sogenannten ‚Rebel Songs‘ waren in der Szene ebenso wenig akzeptiert wie religiöse Bezüge in der Musik, meint Davy McLarnon, alias Davy Treatment von Shock Treatment, im Gespräch mit Sean
o’Neill, Herausgeber des Belfaster Punk-Labels ‚Spit Records‘.
„Man ist eben Punk und das war es. Da kam es nicht darauf an, ob du Katholik, Protestant, Hindu, Muslim oder was auch immer warst. Wenn man für diese Musik wirklich lebte, dann stellte auch keiner irgendwelche Fragen. Ich glaube daher, dass das die Leute in vielerlei Hinsicht definitiv zusammengebracht hat, was normalerweise sonst nicht der Fall gewesen wäre.“
STIFF LITTLE FINGERS (benannt nach einem VIBRATORS-Song) stammen aus Belfast und schrieben zusammen mit Journalist Gordon Ogilvie (SLF-Manager und Co-Texter von 1977 bis 1983) Texte, die die Verwobenheit des Persönlichen mit dem Politischen zum Ausdruck brachten. Die Texte spiegelten zugleich die Frustration über das Leben in einem gewaltgeprägten Alltag während der Bloody Troubles wider. Ende der 1970-er Jahre erforderte es Kreativität und Mut, sich der gewaltgeladenen Atmosphäre gegen Militarismus und für eine alternative Lebensweise einzusetzen. In dem Song ‚White Noise‘ greifen SLF rassistische Stereotypisierungen unterschiedlicher Migrantengruppen auf, um doch ihre Ähnlichkeit aufzuzeigen.
„(...)Stick together, we'll all be all white, me and you. The only colours that we need, red, right and blue. Paddy is a moron, spud-thick Mick. Breeds like a rabbit, thinks with his prick. Anything floors him if he can' fight or drink it. Round them up in Ulster, tow it out and sink it(…).“ White Noise (Jake Burns/Gordon Ogilvie)
White Noise (also Weißes Rauschen) wurde in den 1970-er Jahren als Foltermethode gegen internierte IRA-Kämpfer und andere verdächtige Personen angewandt. Im Song kommt die enge politische und
ideologische Beziehung zwischen Schwarz und Weiß und die Einsicht in die Ähnlichkeit der Ausgrenzungserfahrung unabhängig von der Hautfarbe zum Ausdruck. Für die Band schlug sich die Erkenntnis
in ihrem Engagement für „Rock against Racism“ nieder. Für irische Migranten in Großbritannien führte sie zur dem Bestreben, ihre Interessen im britischen race relations-System
durchzusetzen und zur (Neu-)Entdeckung ihrer Irish ethnicity.
In den 80er Jahren ging es vor allem um Style und Präsentation, um Videos und Geld. Und in dieser Zeit hielten die Konflikte in Nordirland weiter an, sodass Punk sich nicht weiter entwickelte.
Die Situation war ziemlich hoffnungslos, weshalb viele Leute auswanderten – nach London, Dublin oder New York. Eine Generation aber hatte einen ihrer großen historischen Momente miterlebt und
geprägt. Trotz immer neuartiger musikalischer Trends ist das Punkrock-Phänomen der 70er und 80er Jahre nicht in Vergessenheit geraten. Wohl auch deshalb, weil man in Nordirland sehr genau weiß,
was die Punks und Punkbands für die Menschen getan haben: Jugendliche trotz unterschiedlicher Konfessionen zusammenzubringen, ideologische Gräben zuzuschütten, den Hass abzubauen und jungen
Menschen eine Perspektive zu eröffnen. Und das ist auch der Grund dafür, weshalb die Punk-Nostalgie noch immer in vielen alternativen nordirischen Pubs und Clubs zu spüren ist.
PUNK IN BELFAST 1978
Fußnoten:
1. Die Mehrheit dieser Gefangenen waren noch Minderjährige ohne abgeschlossene Schulbildung, als sie erstmals verhaftet wurden. Diese jungen Männer schlossen sich republikanischen Gruppen an, forderten als „politische Gefangene“ anerkannt zu werden. Im Sommer 1971 wurde mit der Internierung von politischen Aktivisten begonnen. Die Internierungspolitik blieb bis 1976 aufrecht, danach wurden Verurteilte in Hochsicherheitsgefängnisse gebracht. Genossen die Internierten noch mehrere Privilegien, verloren die Häftlinge in den Gefängnissen diesen Sonderstatus. Dagegen protestierten die IRA-Gefangenen, was zum Tod von zehn Hungerstreikenden 1981 führte. Erst danach wurden die Privilegien wieder schrittweise eingeführt. Das größte Hochsicherheitsgefängnis in Nordirland, HMP Maze mit seinen berüchtigten H-Blocks wurde 2000 geschlossen. Nach Schätzungen wurden in den drei Jahrzehnten bis zu 20.000 Menschen, sowohl katholische Republikaner, als auch protestantische Loyalisten in Internierungslagern oder Gefängnissen festgehalten. ↩
2. Shankill ist ein protestantisches Stadtviertel im Westen von Belfast, das direkt an die katholische Falls Road grenzt. Hier hatte der Konflikt in den späten 1960er Jahren begonnen und hier war er stets am bittersten. Bis heute steht zwischen den zwei Vierteln eine „Friedensmauer“, die von der Polizei geschlossen wird, wann immer es kracht. Direkt hinter der Mauer befand sich das Elternhaus von Lenny Murphy (1952–1982) – dem Gründer und Chef einer protestantischen Bande, die Mitte der 1970er Jahre zwei Dutzend Katholiken umbrachte. Was Murphy und die Shankill-Schlächter so bemerkenswert machte, war nicht, dass sie Mitglieder der anderen Konfessionen töteten. Auch die Anzahl der Opfer war im Nordirland der 1970er Jahre nicht außergewöhnlich. Das Schockierende war die Art und Weise, mit der Murphy und seine Männer vorgingen. Immer wieder fuhren sie spät nachts durch katholische Viertel, zerrten ihre Opfer ins Auto und schlugen sie bewusstlos. Anschließend brachte man sie ins Hinterzimmer eines Pubs, quälte sie stundenlang, zog ihnen bei vollem Bewusstsein die Zähne oder hackte ihnen Arme und Beine ab. ↩
3. Die Peace People begannen 1976 als Protestbewegung gegen die anhaltende Gewalt in Nordirland. Ihre drei Gründer waren: Mairead Corrigan, (heute Mairead Corrigan Maguire), Betty Williams und Ciaran McKeown. Über 100.000 Menschen waren an der anfänglichen Bewegung beteiligt und zwei der Gründerinnen, Mairead und Betty, erhielten den Friedensnobelpreis. ↩
4. Simon Webster Frith OBE ist ein britischer Soziomusikologe und ehemaliger Musikkritiker, der sich auf populäre Musikkultur spezialisiert hat. ↩
5. Gerry Smyth ist ein Akademiker, Musiker, Schauspieler und Dramatiker aus Dublin, Irland. Er arbeitet in der Abteilung für Englisch an der Liverpool John Moores University, wo er Professor für irische Kulturgeschichte ist. ↩
6. Damals war Irland von einer Showband-Kultur geprägt. Diese Bands spielten im Grunde genommen irgendwelche Coverversionen von Songs, die in den Charts liefen. Sie waren ausgezeichnete Musiker und konnten überall in Irland touren, von Stadt zu Stadt, und fanden so ihr Auskommen. ↩