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Ein neuer Kompromiss in der europäischen Flüchtlingspolitik bahnt sich an

Foto von Julie Ricard auf Unsplash
Foto von Julie Ricard auf Unsplash

In einem älteren Text haben wir mal anlässlich des sogenannten Flüchtlingssommer 2015 aufgeschrieben, worum es wesentlich in der Flüchtlingspolitik geht.1 Die deutsche Flüchtlingspolitik ist auf EU-Ebene im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems geregelt. Innerhalb der EU geraten aber die verschiedenen nationalen Standpunkte ständig aneinander, so dass das aktuell geltende Dublin-Verfahren praktisch nicht klappt. In unserem Text von 2015 wird erklärt, welche Standpunkte innerhalb der EU hier aneinander geraten. Der Text sei an dieser Stelle nochmal empfohlen, weil dort ausgeführt wird, was hier nur angerissen werden soll.

Lange Zeit hat sich in der EU-Asylpolitik nichts wesentlich geändert, doch derzeit arbeiten die EU-Staaten mit neuer Energie an einem neuen Kompromiss, der das alte Dublin-Verfahren im Februar 2024 ablösen soll. Dass ein Kompromiss überhaupt möglich scheint, hat schlicht mit dem Ukraine-Krieg zu tun. Seit Beginn des Krieges haben die EU-Staaten viele Flüchtlinge aufgenommen (allen voran Polen, dessen rechte Regierung lange Zeit schlicht keine Flüchtlinge aufnehmen wollte). Ukrainische Frauen, Kinder und alte Menschen sind willkommen und werden unbürokratisch in die Gesellschaften aufgenommen. Die Flüchtlinge aus der Ukraine erwartet eine echte staatliche Willkommenskultur und eine Grundversorgung ohne die sonst üblichen Schikanen. Das hat auch schon manche Flüchtlingsaktivist*in zur Verzweiflung gebracht: Warum geht hier umstandslos die staatliche Hilfe, während Flüchtlinge ohne ukrainischen Pass zugleich weiter schikaniert werden?

Der Grund ist einfach der, dass die ukrainischen Flüchtlinge einen klaren Nutzen für die EU-Staaten haben:
Über die Waffenhilfen an die Ukraine und über die Sanktionen führen die EU-Staaten (indirekt) Krieg gegen Russland. Das Interesse Russland ins moralische Abseits zu stellen, Russland als Verbrecherstaat darzustellen, hat daher absolute Priorität. Die Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge ist das Material für die Kritik der EU-Staaten an Russland: Das ist ein Staat, der in dieser Welt keinen Respekt verdient. Im Vergleich dazu merkt man, dass z.B. die Kritik des Assad-Regimes oder die Lage in Afghanistan nicht mehr die Hauptinteressen der EU-Staaten sind. Diesem sich veränderten staatlichen Interesse folgend sind syrische und afghanische Flüchtlinge zunehmend nicht mehr gewollt.


Zusätzlich gilt der Zusammenhang von ukrainischen Flüchtlingen mit dem gewollten Verlauf des Krieges: Wenn man sich z.B. die Bundestagsdebatte im März 2022 anschaut, dann kann man da durchweg bemerken, wie die Waffenhilfe für die Ukraine und die Hilfe für die ukrainischen Flüchtlinge in einem Atemzug benannt werden.2 Und das hat folgenden Grund: Ihre Umsorgung soll den ukrainischen wehrfähigen Männern und Frauen Kraft geben, ihr Leben im Krieg hinzugeben. Diesen Einsatz beschrieb die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen kürzlich so: „Die Ukrainer sind bereit, für die europäische Perspektive zu sterben“. Diese europäische Perspektive sieht derzeit so aus: In einen direkten Krieg mit Russland wollen die EU-Staaten nicht eintreten. Aber sie wollen Russland schwächen, indem man die Ukraine gerade mit so viel Waffen ausstattet, dass die Truppen dort Russland aufhalten und es somit in einen langen Abnutzungskrieg reinziehen. So will die EU, dass der Krieg verläuft und da ist es förderlich, wenn die kämpfenden Soldat*innen in der Ukraine sich ohne Rücksicht um den Verbleib der eigenen Familie und Verwandtschaft in den Kampf und Tod werfen können.3


Freilich: Die Unterstützung der ukrainischen Flüchtlinge kostet eine Menge und das wird dauerhaft so bleiben, zumindest solange die EU zusammen mit den USA den Krieg so gestalten wollen. In diesem Lichte fallen dann den EU-Staaten die weiteren Flüchtlinge, die gewohnheitsgemäß über die Balkan-Route und das Mittelmeer ankommen und sich überwiegend vorbei an bestehenden EU-Regeln, über die EU-Staaten verteilen, umso lästiger auf. Jetzt, da das Hauptinteresse auf die ukrainischen Flüchtlinge gerichtet ist und Flüchtlinge aus anderen Ländern weniger als nützliches politisches Mittel, sondern vor allem als Last auffallen, sind zumindest einige relevante EU-Staaten bereit, doch nochmal aufeinander zu zugehen.


Konkret heißt das Aufeinanderzugehen in der EU-Asypolitik:
Bislang konnten und wollten sich Italien und Griechenland nicht auf die Hot-Spot-Lösung verlassen. Die dort registrierten Flüchtlinge sollten in andere EU-Staaten weitergereicht werden, aber nur wenn die anderen Staaten freiwillig mitmachten. Das haben viele Staaten gar nicht gemacht. Selbst Deutschland, das diesen Mechanismus eingebracht hat, machte nur sehr zögerlich mit. Insofern haben Italien und Griechenland die Flüchtlinge einfach ohne Registrierung durchreisen lassen, zum Ärger von z.B. Österreich oder Deutschland. Jetzt sollen die Hot-Spots zu „Aufnahmeeinrichtungen“ werden. Über den Charakter dieser Anstalten wird kein Hehl gemacht. Die FAZ spricht von „haftähnlichen Bedingungen in streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen“, die taz von „Internierungslagern“. Hier sollen all diejenigen Flüchtlinge landen, die – wie es so schön heißt – keine „Bleibeperspektive“ haben, weil die EU-Staaten ihnen die schlicht nicht geben wollen. „Das betrifft Menschen aus Ländern, bei denen die durchschnittliche Anerkennungsrate der Asylanträge in der EU unter 20 Prozent liegt oder die aus sogenannten sicheren Herkunftsländern stammen. Die 20-Prozent-Quote greift etwa bei Ägypten, Bangladesch oder Nigeria. Als sichere Herkunftsländer dürften etwa Marokko, Tunesien oder Algerien eingestuft werden.“ (taz, 09.06.2023) Mit ihnen soll ein Schnellverfahren durchgezogen werden, dass 12 Wochen dauern soll. Ist dann das Urteil negativ, dann sollen sie abgeschoben werden und dafür bis zu 6 Monate im „Gefängnis“ bleiben. Die EU-Staaten legen freilich Wert darauf, dass dies kein echter Freiheitsentzug sei, denn schließlich könnten die Menschen jederzeit freiwillig ausreisen – nur nicht in die EU.


Die Abschiebung ist nicht immer einfach, weil dabei irgendwelche Länder zustimmen müssen, in die „zurückgeschickt“ wird. Der Clou des neuen Kompromisses ist hier:

  1. Die Aufnahmezentren sollen quasi extraterritorial sein, d.h. nicht echtes EU-Land. Die Flüchtlinge sind somit offiziell gar nicht „eingereist“ und das soll bei der Abschiebung einige bürokratische Hürden nehmen.
  2. Das Land, in das abgeschoben wird, braucht nicht mehr dasjenige der Staatsbürgerschaft des Flüchtlings sein. Es reicht eine „Verbindung“ des Staates zum Flüchtling diese darf jetzt auch einfach irgendein „Transitland“ sein, das Flüchtlinge durchquert haben. Und was alles eine „Verbindung“ ist, das darf jedes EU-Land selber interpretieren und auslegen. So macht die EU dann z.B. Italien mit seiner rechtsradikalen Regierung zur Entscheidungsinstanz in Sachen Abschiebung. Die rechtsradikale Regierung liebäugelt derzeit mit Tunesien und die EU unterstützt Italien dabei, einen Deal mit dem Land hinzubekommen.4 Diejenigen Flüchtlinge, die wider erwarten doch Asyl bekommen sollten, sollen in die anderen EU-Staaten verteilt werden, wobei sich ein Staat hier auch mit einer Kopfprämie von 22.000€ freikaufen können soll. Daran könnte der neue Kompromiss noch scheitern, weil Polen und Ungarn das ablehnen. Sie wollen keine Flüchtlinge, die zuvor woanders angekommen sind, basta. Sie wollen vor allem aber nicht die ihre Souveränität in der Entscheidung, wer in ihren Ländern Aufenthaltsrechte bekommt, an die EU abgeben. Spekuliert wird darüber, dass die anderen EU-Staaten sie noch ins Boot holen könnten, wenn die finanziellen Beiträge für Frontex hier mit den Kopfprämien verrechnet werden könnten. In dem neuen EU-Kompromiss zur Flüchtlingspolitik sind weitere eklige Details enthalten, die hier nicht weiter besprochen werden sollen. Es bleibt vorerst festzuhalten, dass die EU-Staaten folgendes wollen und/oder in Kauf nehmen:
  3. An einer Weltordnung, in der die Kapitale abgehängte Staaten als Rohstofflieferanten benutzen können, hält die EU fest. Ob mit oder ohne IWF werden ganze Staaten und Regionen auf ihre Funktion als Rohstofflieferanten für den kapitalistischen Westen festgelegt. Die Überlegenheit der Kapitale aus den kapitalistischen Zentren sorgt dafür, dass sich in den abgehängten Staaten keine aufblühende kapitalistische Produktion mit umfangreichen Arbeitsplätzen durchsetzt. Für die Staatsführung eines „Rohstofflandes“ ist ihre Bevölkerung – im Unterschied zu erfolgreichen kapitalistischen Staaten – dann keine brauchbare Ressource, die man in rentable Arbeit führen will, sondern weitgehend überflüssig. Sie steht im Weg, weil große Landesteile für die kapitalistischen Rohstoff-Unternehmen gebraucht werden (wozu zukünftig auch die geplanten Solarparks gehören). Der Staat ist in einem „Rohstoffland“ im Großen und Ganzen die einzige gute Einkommensquelle und so finden sich immer wieder Leute, die abgehängte Bevölkerungsteile mobilisieren, um sich an die Macht zu putschen. Daraus resultierende Bürgerkriege (siehe aktuell Sudan) oder abweichende Regierungsprogramme werden vom Westen als Ordnungsprobleme gesehen und die „Verantwortung für die Welt“ wird dann mit Kriegen oder Unterstützung von Bürgerkriegen wahrgenommen. Die meisten Leute, die aus diesen Zuständen fliehen, sollen aus der EU draußen gehalten oder durch zu erwartende miese Behandlungen abgeschreckt werden. Ausgewählte Flüchtlinge sollen Asyl bekommen. Und damit verschafft sich Deutschland (bzw. alle EU-Staaten) die moralischen Titel „Verantwortung, Pflicht und Recht“, um mit denen – und so schließt sich der Kreis - in der Welt Einfluss zu nehmen.
  4. Die in der Staatenkonkurrenz abgehängten Staaten in Nord-Afrika sollen für die EU-Staaten die Flüchtlinge verwalten. Dafür bekommen sie neue Finanzzuschüsse. Dass die Staaten einigermaßen autoritär organisiert sind, geht dabei für die EU in Ordnung, weil damit immerhin der Staat funktioniert, der mit seiner Gewalt seinen Dienst für die EU erledigen kann.
  5. Das Mittelmeer bleibt ein Massengrab, das anhaltend mit neuen ertrunkenen Flüchtlingen angereichert wird.
  6. Damit der Krieg in der Ukraine so weiterlaufen kann, wie bislang, müssen Flüchtlinge mit ukrainischer Staatsbürgerschaft umstandslos versorgt werden.

Darauf können sich pi mal Daumen viele EU-Staaten einigen und insbesondere die verantwortlichen Grünen und Sozialdemokrat*innen in Deutschland mit der rechtsradikalen Regierung in Italien.

An dieser Stelle ein Liedtipp – Pisse, Scheiß DDR:

Scheiß DDR
Ach was für ein schönes Land
Alle war'n im Widerstand
Videorekorder und Bananen
Stand geschrieben auf den Fahnen
'89 war's vorbei
Ach was wart ihr alle frei
Alle auf zum Flüchtlingsheim
Jeder haut 'nen Molli rein

Scheiß BRD

Videorekorder und Bananen
Und japanischе Sportwagen
Soldaten in Berlin nicht mеhr
Heute rund um's Mittelmeer

Scheiß Europa



Ein Textbeitrag von Gruppen gegen Kapital und Nation


Fußnoten:

1. Was „Merkels kurzer Sommer der Menschlichkeit“ über die deutsche Realität aussagt https://gegen-kapital-und-nation.org/was-merkels-kurzer-sommer-der-menschlichkeit-%C3%BCber-die-deutsche-realit%C3%A4t-aussagt/

2. Siehe https://dserver.bundestag.de/btp/20/20020.pdf, S. 1404ff.

3. Zum Krieg siehe die Themenseite der Gruppen gegen Kapital und Nation.

4. Dänemark und Österreich plädieren dafür es UK gleich zu tun: Flüchtlinge werden sofort in irgendeinen Dritt-Welt-Staat verfrachtet und dort wird dann das Asylverfahren durchgeführt (sogenanntes „Ruanda-Modell“). Soweit ist es jetzt noch nicht gekommen – hier würde keine Verbindung bestehen.