Fußblei

Die Kneipe war ein dunkles Loch. Das einzige was halbwegs bunt erschien, waren die durch Tabakqualm ins dunkelbraune übergegangenen Wände des Raumes. Oben brauner als unten. Kein Ort, an dem ein Mensch bleiben sollte. Der Mensch blieb trotzdem sitzen. Die Menschen blieben sitzen. Alle. Kein Mensch erreichte in seinem Leben einen versetzungsfreien Aufenthalt. Alles Sitzenbleiber durch den Fluss. Weiße Stoppeln im grauen Gesicht hatten sie beide, doch einer am Tisch machte zuerst einen der beiden fest verkniffenen Münder auf: “Hab' dich hier schon öfter gesehen, kennst dich bestimmt aus, gibt's hier was zu ficken?"

"Manchmal ja und manchmal nicht" hörte der Mensch.
"Und zu essen gibt's hier auch nichts, stimmt's?"
"Stimmt. Aber zu Hause hab' ich beides!" meinte der Mensch.

"Spinner!“ sagte der andere.
"Brauchst es nicht glauben, aber wenn, dann komm einfach mit!" Die beiden Menschen verließen das Loch. Bei ihm angekommen hörte der Mensch wie der andere Mensch telefonierte: "...lst gut Birgit, also in ’ner Stunde...und du meinst, Britta kann auch?...lst ein ganz netter hier bei mir, kannst ihr ruhig sagen, und Hunger hat er auch...!”

Der Mensch schaute sich beim Hören um, sah ein großes Gurkenfass aus Plastik im geöffneten Raum nebenan, drei, vier Töpfe auf dem Teppich, roch käsigen Gestank...
“Hast gehört? Die Mädels kommen gleich! Das sind geile Puppen, wirst gleich sehen, knappe Stunde, willst was essen?”
“Gerne" antwortete der Mensch. Der andere tischte ihm einen großen, weißen Klumpen Fleisch auf, und der Mensch haute rein, kaute und schluckte, und ihm war, als würde er einen Haufen Wahrheit in sich schlucken. Spürte, wie leicht es sein könnte zu leben, hatte man doch immer solch ein Fleisch... er drehte den Brocken um und sah auf dem hellen Fleisch eine Menge schwarzer Haare. Das leichte, angeschluckte Lebensgefühl stolperte in Ekel um. Der Mensch legte das Besteck ab, schob den Teller von sich weg und sagte: “Ich bin satt!"
“Pass auf, die feuchten Puppen kommen gleich, unersättlich, bloß ich hab’ Rheuma in den Fingern, muss noch einen wichtigen Brief schreiben. Kannst du das machen, wenn ich dir diktiere?“
"Für Frauen tu ich alles!“ sagte der Menschmann. Der andere legte ihm Stift und Papier vor den Teller, stellte sich hinter den Menschen und begann: ”Schreib auf: du dicke, fette, geile Sau..."
Der Mensch musste lachen, drehte sich zum anderen um und sah in seinem letzten Augenblick eine Spitzhacke auf seinen Schädel rasen...
Der Mann wachte auf, zitterte, ging sich zitternd ein paar Tropfen Urin abschütteln, gelang wieder zitternd ins Bett, griff sich das neben ihm liegende, aufgeklappte Buch, atmete tief durch und las auf Seite 165 weiter...
"Legen Sie doch den Hut ab, der stört Sie beim Schreiben."
Oliver nimmt den Hut ab und legt ihn auf die Kommode. Dann erhält er einen Bogen Papier und einen Bleistift, um den Brief zu schreiben. Denke steht jetzt rechts hinter Oliver.
“Zuerst diktiere ich Ihnen die Anrede”, verkündet er. “Adolf, du dicker Wanst!"
Oliver beginnt zu schreiben: "Adolf, du...“ und muss plötzlich lachen. Lachend wendet er sich zu Denke um. Sieht etwas durch die Luft sausen und spürt einen brutalen Schlag an die rechte Kopfseite. Benommen vor Schreck und Schmerz taumelt er empor. Denke schwingt erneut die Spitzhacke... “Was soll das? Das habe ich gerade durchgemacht! Bin eben noch davongekommen...!"
Der Mann schmiss das Buch dahin zurück, wo er es her hatte, auf die freie Seite neben sich. Die Welt blieb mürbe, in sich, neben sich, überall. Der Mann erhob sich, hungrig, und sogar das Treppenabwärtslaufen vor die Tür, ließ ihn schwer atmen. Die Straßen der Stadt schienen ihm leer, all das umgebende Licht war leer, doch sein Herz pochte drängend, und ihm war, als sollte er gar sein drängendes Herz verdrängen.
Die Kneipe war ihm unbekannt. ‘Wenigstens ein Vorteil‘, dachte er ‘in dieser großen, bedrängten Stadt.‘ Die Kneipe war ein dunkles Loch. Das einzige was halbwegs bunt erschien, waren die durch Zigaretten- und Zigarrenqualm ins dunkelbraune übergegangenen Wände. Die Decke dunkler als die Wände. Kein Ort, an dem ein Mensch bleiben sollte. Der Mensch blieb, setzte sich auf den einen freien Stuhl im ganzen Laden, an einem Zweimanntisch mit einem Mann, dessen fest zusammengekniffener Mund auf einen leeren Bierdeckel zeigte. Der Mann hatte weiße Stoppeln im grauen Gesicht. Dem Mann war, als kannte er den Menschen. “N'abend, gibt's hier was Warmes zu essen?“ fragte der Mann.
“Hin und wieder ja, aber zu Hause habe ich genug!" öffnete der Mensch mit dem grauen Gesicht den Mund.

“Zu Hause hab’ ich viel zu essen. Wenn's nichts gibt, kommst einfach mit!“ fügte er hinzu. "Und wenn du mir noch sagst, du hast auch heiße Miezen da, geb' ich dir vorher noch ein Bier aus!“ antwortete der Mann.

“Sicherlich, da muss ich aber anrufen" sagte der Mensch.

Und der Mann versuchte, im lauten Raum zwei Bier zu bestellen.
© J. Landt

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