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FINISTERRE

Manuela – FINISTERRE

Fight Normativity – antipatriarchale Stoßrichtung

 

Manuela singt bei FINISTERRE, einer HC-, Crustband aus Köln/Hannover, die sehr gute, politische und soziale Themen aufgreift und in einen düsteren, aggressiven, intensiven Kontext stellt. FINISTERRE perfektioniert eine Untergangshysterie, eine Lebenswelt, die gezeichnet ist von Ignoranz, Zerstörung, von einem Überwachungsstaat, Gefängnisse, Kapitalismus und sexuelle Gewalt. Ein Thema, was sich insbesondere im Song „The unspeakable“ widerspiegelt. Manuela liefert zu diesem Song auf der Bühne stets einige Erklärungen und macht zu „sexual violence“-Verhalten klare Ansagen: „Violence starts(…)where people of different gender-identities feel restricted in their personal freedom, when they have to avoid certain places, paths or situations for not being insulted, harassed or threatened.“

Manuela
Manuela

Manuela verdeutlicht, wie „Zustimmungsprinzip“ und „Definitionsmacht“ zusammenhängen und dass patriarchale Strukturen sexuelle Gewalt produziert und aufrecht erhält. Die wichtigsten Kennzeichen der patriarchalen Gesellschaften sind die ungleiche Macht- und Ressourcenverteilung zugunsten des männlichen Geschlechts sowie die geschlechtliche Arbeitsteilung, die in Ehe und Familie gesellschaftlich verankert ist. Die ideologische Verankerung der sexuellen Ausbeutung von Frauen liegt in der männlichen Besitzermentalität. Die Verfügungsgewalt über Frauen lässt Männer annehmen, dass ihnen die Frau zur Verfügung stehen müssen, und dass damit sexuelle Übergriffe ihr gutes Recht sind. Die Verinnerlichung von sexistischen Normen, Werten und Verhaltensweisen werden von den Mitgliedern einer Gesellschaft internalisiert und damit wiederum an die nachfolgenden weitergegeben, das heißt die Gesellschaft reproduziert ihre Normen und Werte und letztlich sich selbst. Im Gespräch mit Manuela werden Überlegungen angestellt, wie tradierte Rollenbilder, männliche Überlegenheit und die gesellschaftlichen Normen in der politischen Alltagspraxis reflektiert werden sollten, um stereotype Bilder sichtbar zu machen und alternative Handlungsstrategien zu erarbeiten und ein Aufweichen und Entgrenzen von Geschlechtlichkeit, Sexualität und Individualität zu erreichen. Und wie sexuelle Gewalt bekämpft werden kann…

This is a big „fuck you“ to a patriarchal society that tells us to shut up, when it comes to rape!

Manuela, im TRUST-Zine #160 hast du das Singen in der Band FINISTERRE und den von dir selbst aufgestellten Erwartungsdruck im Kontext der tradierten Rollenbilder beschrieben. Warum „spielst“ du die toughe, selbstbewusste Manuela, die du sein „musst“?
Naja, prinzipiell gehe ich erst mal davon aus, dass jeder Mensch nicht ganz frei ist von verinnerlichten „-ismen“ und Erwartungen, die sozialisiert, sowie gesellschaftlich produziert und reproduziert werden. Bleibt diese Erkenntnis persönlich verborgen und nicht reflektiert, agieren wir ganz schnell in dem Muster, dass wir sehr wohl bestimmte Verhaltensweisen und Dinge voraussetzen. Wir sind irritiert, wenn Menschen in anderer Weise reagieren, als wir das erwarten und finden es wahrscheinlich sogar erst mal komisch.
Wir lernen Leute in bestimmter Weise kennen und einschätzen. Das ist für uns verlässlich und wir denken, die Person zu kennen. Verhalten sich diese Menschen dann durch bestimmte Vorkommnisse, Gefühlszustände etc. nicht mehr so wie gewohnt, dann geraten wir ins Schwanken und reagieren evtl. sogar mit Ablehnung, weil wir nicht wissen, was das zu bedeuten hat und ungewöhnlich ist. Sobald sich ein Teil in diesem (Beziehungs-)System verändert, verändert sich auch die Folgestruktur. Deshalb ist es oft schwierig, sich mal anders als gewohnt zu verhalten, ohne sich erklären oder die anderen beruhigen zu müssen. Das kostet manchmal einfach mehr Energie, als einfach zu tun als wäre alles in Ordnung und Unbehaglichkeiten aller Art/etc zu überspielen. Ich kenne diese Schwierigkeit v.a. auch im engeren Kreis von Bezugspersonen – mein Verhalten hat einen Effekt auf mein Gegenüber, die wiederum auch darauf reagiert und einen Effekt auf mich überträgt, projiziert etc. – vice versa…

 

Das ist nicht immer schön und auch oft anstrengend. Da muss man gut mit den eigenen Energien haushalten um ein eventuelles Missverständnis bzw. eine Disharmonie aushalten zu können. Und manchmal nervt es auch, wenn man einfach mal nicht immer dieselbe Rolle erfüllen will und sich da aber nicht wirklich frei darin fühlt. Zu deiner Frage: ich spiele nicht immer die toughe – ich bin es auch, nur eben nicht immer. Es ist genauso Teil meiner Persönlichkeitsstruktur, wie sich auch mal schwach und kraftlos zu fühlen.
Manchmal fungiert ein toughes und selbstbewusstes Auftreten allerdings über das persönliche Empowerment(1)hinaus auch als Schutz – das finde ich völlig legitim. – Ich entscheide selbst, wann ich Leuten Einblick in meine Privatsphären gebe und wann nicht. Es gibt Momente, da ist es völlig authentisch, sich „emotionaler“ zu präsentieren – es gibt aber auch Momente, v.a. außerhalb jeglicher sicherer Strukturen, da finde ich es persönlich für mich nicht angemessen, meine „Rolle“ als toughe selbstbewusste Manuela abzulegen – als Schutz, als Grenze oder aber auch als Ablehnung!

 

Wie wird nicht-rollenkonformes Verhalten von dir bewertet?
Mein Idealanspruch ist nicht, sich um jeden Preis nonkonform zu verhalten. Mein Anspruch ist vielmehr, das eigene Verhalten zu reflektieren und zu erkennen, ob ich mich so verhalte, weil ich denke, es wird von mir erwartet oder weil ich es will und es sich so gut anfühlt. Das kann natürlich auch der Weg des geringsten Widerstandes sein, aber eigentlich möchte ich das nicht negativ bewerten. Eine politische unkonventionelle Alltagspraxis kostet viel Ausdauer und Kraft. Für mich persönlich allerdings ist es sehr wichtig eigenständig zu sein und zu bleiben und mich nicht von einer bürgerlichen, heteronormativen und diffamierenden Gesellschaftsordnung klein kriegen zu lassen. Manchmal geht mir diese Kackscheiße sogar so auf die Nerven, dass ich mich sogar sehr provozierend und bewusst nicht-rollenkonform verhalte.

 

Warum ist es wichtig, das eigene Verhalten kritisch auf tradierte, stereotype Vorstellungen zu überprüfen und zu hinterfragen?
Ich glaube eben nicht daran, dass es nur eine dichotome Struktur von vermeintlichen „Frauen“ oder „Männern“ gibt. Eine Geschlechterordnung kann nicht nur zweigeteilt und binär sein. Das kann nicht funktionieren und tut es augenscheinlich ja auch nicht (→ trans*, inter*, _,…). Zudem gibt es viele Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit, nicht nur die, die hegemonial verankert und die scheinbare/scheinaffirmative „Norm“ darstellen. Ich finde es wichtig, sich das klar zu machen und selbst zu überprüfen, wie viel Geschlecht ich bin und wie viel ich von anderem bin – Identität ist vielfältig und nicht nur auf ein Schema reduzierbar. Das merke ich ständig, indem ich an gesellschaftlichen Mustern anecke, weil ich nicht reinpasse oder reinpassen will oder mich nicht reinpressen lasse. Ich entscheide, wie ich leben will und weiß, was gut für mich ist. Und ich sehe für mich persönlich und natürlich auch darüber hinaus großes Potential im Aufweichen und Entgrenzen von Geschlechtlichkeit, Sexualität und Individualität.

 

Das Aufbrechen der tradierten Rollenbilder ist wichtig für die Veränderungen der Geschlechterverhältnisse. Wann und wie wurdest du motiviert, dich mit Geschlechterstereotype und -rollen auseinanderzusetzen?
Ich bin in einem relativ kleinen Scheißkaff aufgewachsen, in dem Rassismus und Homophobie hegemonial verankert sind. Sich in dieser braunen Suppe als emanzipatorisch zu verhalten braucht nicht viel, alles ist besser als das. Doch auch heute noch merke ich, dass ich meine radikalen politischen Ansichten in Bezug auf feministische oder queer Theorie danach ausrichte, wer vor mir steht. Persönlich würde ich mich als QueerFeministin* beschreiben, treffe ich jedoch auf Menschen, die noch nie was von Sexismus, Unterdückungsmechanismen, Patriarchat und mehr als zwei Geschlechtern gehört haben, bzw. sich noch nie damit auseinander gesetzt haben, fange ich eher grundsätzlich mit feministischen Grundlagen an und gebe mich eher als selbstbewusste Frau*/ Feministin (was auch immer sich die Leute auch darunter vorstellen). Alles andere würde wahrscheinlich keinen Sinn machen, die Leute würden denken, ich sei verrückt und zumachen. Was ich damit sagen will ist, dass Verhalten und damit verbunden auch Veränderungen im Verhalten immer kontextgebunden zu betrachten, anzugehen und zu bearbeiten sind. Beispiel: Wenn meine Eltern noch nie was von trans* und queer gehört haben, dann muss ich eben auf einer Ebene beginnen, die sie eventuell verstehen können, beispielsweise, dass es bestimmte gesellschaftliche Ungleichheiten zwischen Männern* und Frauen* gibt, exemplarisch sind hierbei ungleiche Löhne – das werden sie vermutlich in irgendeiner Form aus ihrer Lebensrealität kennen, oder sie kennen Leute, die davon betroffen sind und können darüber besser verstehen, was die Ansatzpunkte sind. Im besten Fall kann man sich dann peu á peu vorarbeiten! Bewege ich mich aber in Kreisen, die selbst an und mit diesen Themen und Grundsätzen arbeiten, nehme ich auch radikalere Positionen ein und kann da aber auch inhaltlich ganz anders und viel fundierter diskutieren – bestimmte Grundannahmen sind dabei klar/ Konsens (z.B., dass wir im Patriarchat leben und dass das wesentlich zur Unterstützung des kapitalistischen Systems beiträgt). In diesem Fall übernehme ich ganz klar queer-feministische Positionen. Vergleichen wir beide genannten Situationen/ Beispiele, dann erscheinen sie grundverschieden. Sind sie auch. Und dennoch sehe ich in beiden Optionen ein Aufbrechen normativer Rollen- und Gesellschaftsstruktur. Ein erster Schritt dahin ist immer überhaupt erst mal eine Thematisierung von Unterdrückungs- und Ausschlussmechanismen aller Art – ein Aufdecken und Sichtbarmachen, um Menschen die Möglichkeit zu nehmen, einfach darüber hinweg zu sehen und zu ignorieren, als haben sie mit all dem nix zu tun und seien davon auch nicht betroffen. Ein persönliches Beispiel aus meiner Sozialisation ist eher klassisch. Wahrscheinlich werden das auch andere kennen. Ich wollte als Kind gerne ein BMX-Fahrrad haben, mein Cousin hatte eins, ich fand’s total cool und habe es mir zum Geburtstag gewünscht – bekommen habe ich dann ein rosa Mädchen-Fahrrad…oder als mein kleiner Cousin anfing, sich einen Puppenwagen zu wünschen und alle Erwachsenen etwas panisch und hilflos wirkten und sich Sorgen um seine spätere sexuelle Orientierung machen…das hört sich jetzt zwar plakativ an, dass sich jede halbwegs aufgeklärte Person kaum mehr vorstellen kann, dass sich dieses Klischee nach wie vor bewahrheitet. Und doch sind es viel zu oft vorkommende reale Alltagssituationen, die vielen in irgendeiner Form bekannt vorkommt. In meiner Familie habe ich irgendwann aufgehört zu schweigen, wenn am gemeinsamen Tisch mit Grillgut und Alkohol ein rassistischer und/ oder homphober Witz gerissen wurde. Seitdem war ich der Störfaktor, der die vermeintliche Harmonie wissentlich kaputt macht – selbstverständlich haben es ja auch alle nie so gemeint und meine Mutter stand oft heulend in der Küche und fragte mich, „warum ich immer so sei“!!!

Wahrscheinlich habe ich schon immer oder zumindest schon ganz lange in meinem Leben gedacht, dass so, wie es ist, ganz schön viel falsch läuft – diese Erkenntnis war meine Motivation, um meine Fühler nach anderen Konzepten auszustrecken. In diesem Kaff war ich allerdings ziemlich abgeschnitten von der Außenwelt und Internet gab es erst, als ich schon das Abitur in der Tasche hatte. Da war halt noch nix mit Suchmaschinen oder Web-Vernetzung mit Leuten, die ähnliche Ideen hatten oder Unzufriedenheiten spürten. Ich wechselte irgendwann die Schule und habe dort erstmals „Punx“ kennen gelernt, bzw. Leute, die andere Lebensentwürfe hatten und lebten, dadurch habe ich mich politisiert und so haben sich die Dinge entwickelt. Als ich dann das erste Mal von Butler und Dekonstruktion gehört habe und mir dadurch klar wurde, dass Geschlecht sozial konstruiert ist, war das für mich die Revolution (auch wenn dieses Buch schon seit mehr als 20 Jahren publiziert ist, hat es doch in Europa erst viel später Einzug erhalten). Und dass es mittlerweile auch Naturwissenschaftler*innen (Voß) gibt, die sogar das biologische Geschlecht als konstruiert beweisen, fängt mir das Leben langsam an Spaß zu machen. Im Vergleich mit anderen habe ich schon in meiner Pubertät begriffen, dass es (augenscheinlich)
verschiedene Konzepte von Männlichkeit* und Weiblichkeit* gibt und darunter jeweils ein Modell, was sich offensichtlich besonders durchgesetzt hat, bzw. mit besonderem Interesse gepusht und konstruiert und als hegemonial und „natürlich“ gegeben propagiert wurde.

 

„They control emotion and you know it too. No matter what you try they rule over you. Racism, sexism – that ́s the name, the name of their game“ singst du in „No matter how hard“. Wen kritisierst du hier konkret?
Der Text zu diesem Lied ist gar nicht von uns, sondern wir rezitieren ihn, weil er so viele Inhalte transportiert, mit denen wir uns als Band und als Individuen identifizieren können. Die Person, von der dieser Text ursprünglich stammt war/ ist aus politischen Gründen inhaftiert (gewesen) und hat diese Zeilen im Knast geschrieben, ein extrem persönlicher Bezug also. Genau deshalb fanden wir es wichtig, die Ideen und Gedanken weiter zu tragen und zu verbreiten. Es greift die Strukturen kapitalistischer, patriarchaler und hegemonialer Strukturen an, mit all den inhärenten Rassismen, Sexismen und allen anderen Ausgrenzungsmustern – Smash the system! No gods, no masters!

 

„Dear body – I ́m sorry! Sexuality – wounded by domestic violence“. Bevor ihr den Song „The unspeakable“ spielt, machst du eine Ansage. Was vermittelst du dem Publikum?
Im Wesentlichen versuche ich transparent zu machen, dass für uns als Band Hardcore mehr ist als Musik und eng verknüpft ist mit politischen Ansichten und Handeln. Da es insbesondere in diesem Lied um sexualisierte Gewalt geht – auch wenn „domestic violence“ ganz konkret „häusliche Gewalt“ heißt – versuche ich zu verdeutlichen, dass das kein Thema ist, wo wir wegschauen können und was nichts mit unser aller Leben zu tun habe.Sexualisierte Gewalt hat unterschiedlichste Erscheinungsformen, fängt bei täglichen sexuellen Anzüglichkeiten und Grenzüberschreitungen an, geht über sexistische Sprache und frauenfeindliche Witze. Oft wird genau das nicht als Gewalt definiert, weil es in dieser Gesellschaft so hegemonial verankert ist und so oft passiert/ vorkommt, dass es „normal“ erscheint. Statistisch wissen wir, dass der Aggressor bzw. die Gewalt ausübende Person selten Personen sind, die uns unbekannt sind. Meistens kommen sie aus dem sozialen Nahraum – Freunde, Familie, Kollegen, Peers…
Deshalb macht es auch keinen Sinn, so zu tun, als würde uns das nie passieren und als wäre die Punk/Hardcore-Szene davor gefeit! Zudem kommt noch dazu, dass Betroffenen oft nicht geglaubt wird, sie ihre Erfahrungen dauernd neu ausführen und sich rechtfertigen müssen, so lange, bis vermeintlich eindeutige Beweise vorliegen. Um sich und anderen diese Tortur zu ersparen, werden viele Übergriffe nicht öffentlich benannt oder zur Anzeige gebracht und die Dunkelziffer ist sehr hoch. Deshalb habe ich dieses Lied geschrieben, als großes „Fuck off!“ an eine Gesellschaft die uns klein halten und verunsichern will, wenn es zu Vergewaltigung kommt! Mein Anliegen mit einer Ansage vor diesem Lied ist es, ein eindeutiges Statement zu setzen, Leute zu ermutigen, aber auch zu sensibilisieren, dass Awareness ein Thema ist, was uns alle angeht und was wir nicht an vermeintliche Expert_innen auslagern können.

 

Warum werden biologisch begründete Geschlechterunterschiede von vielen Menschen so bereitwillig angenommen und weniger historisch, politisch und kulturell bedingt und veränderbar beschrieben?
Tja, das ist eine Frage, die ich mir auch ständig stelle, wenn ich mich mit Leuten in Diskussionen über Geschlecht/ Gender befinde. Oft glaube ich, dass es den Leuten vermeintliche Sicherheit in ihren kleinen unzulänglichen und vorurteilsbeladenen Nischen und Kategorien/ Schubladen verschafft/ verschaffen soll. Sie berufen sich dabei auf vermeintliche Eindeutigkeiten, als könne der Blick zwischen die Beine von Menschen absolute Klarheit garantieren und beweisen. Dabei werden folgende Punkte außer Acht gelassen:
Geschlecht ist mehr als das biologische Geschlecht.
Auch das biologische Geschlecht sagt nichts über die Geschlechtsidentität des Menschen aus und ist nicht automatisch gekoppelt mit heterosexuellem Begehren (Kohärenz, Butler).
Schon mal was von Intersex* gehört?(2) → biologische Uneindeutigkeiten sind genauso Teil der Menschheitsgeschichte und kulturhistorisch bereits seit der Antike bekannt. Menschen schauen nur ungern über den eigenen Tellerrand hinaus, und setzen sich auch ungern mit den eigenen Unzulänglichkeiten auseinander. Das so genannte „Hebammengeschlecht“ wird einfach so übernommen, ganz egal, was auf chromosomaler, gonadaler, endokrinologischer oder eben der selbstbestimmten Ebene definiert wird. Alles was vermeintlich zählt, ist das phänotypische, äußerlich sicht- und zuordbare Geschlecht, die sogenannten primären Geschlechtsmerkmale. Es wird in einer Urkunde festgehalten, einem Dokument, dass einem ein Leben lang zur Last werden kann. Geschlechterordnung zu überdenken und alte Stigmata zu dekonstruieren und zu überwinden, kann nur unter Einbezug anderer Faktoren geschehen, nämlich mal Augen und Ohren aufzumachen, was politisch, historisch und kulturell so an Diskursen existieren, mal darüber nachdenken, die eigene Begrenztheit erkennen und öffnen und zukünftig auf Fremdzuweisungen zu verzichten und die Leute vielleicht mal selber fragen, wie sie sich (momentan) definieren und welches Pronomen sie für sich bevorzugen. Geschlecht und Sexualität sind keine starren Konstrukte, sondern begreifen sich als ein lebenslanger sich wandelnder Prozess.

 

Aggressives Verhalten wird mehr durch elterliches Vorbild und durch die Medien beeinflusst als durch Geschlechtsunterschiede. Wie hast du gelernt, Alternativen zur körperlichen Gewalt zu entwickeln?
Ich habe weder gelernt mit Gewalt umzugehen, noch Alternativen dazu zu entwickeln. Ich sollte in dem Glauben aufwachsen, dass Mädchen immer lieb und nett sein sollen und es ausschließlich Jungs vorbehalten ist, sich zu prügeln, weil das eben die Raudis seien. Diese Ansichten sind kulturhistorisch hervorgebracht und sozialisiert. Es ist ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft, dass „Frauen“ Aggressionen vermeintlich eher internalisieren, z.B. in Form von autoaggressivem Verhalten, während „Männer“ externalisieren, nach außen ausagieren und deshalb vermeintlich eher zu körperlicher Gewalt greifen.
Schon als Kind ging bei mir das oben genannte Konzept nicht auf, ich hab mich oft schon vor Beginn der ersten Schulstunde geprügelt – wie andere Kinder im Übrigen auch. Ich kenne KEIN Kind, was sich ausschließlich wie ein „Mädchen“ oder wie ein „Junge“ verhält…was soll das auch überhaupt sein, ein „Mädchen“, ein „Junge“? Ich persönlich lehne körperliche Gewalt nicht per se ab und fühle mich dadurch durchaus auch empowert.

 

Welche typisch weiblichen/männlichen Verhaltensweisen und Ausdrucksformen führen deiner Meinung nach zu körperlicher Gewalt?
Was bei mir Aggressionen auslöst und wo ich gerne einmal feste draufhauen möchte, ist mackeriges und übergriffiges Verhalten. Meistens bezieht sich das dann auf Cis-Männer(3). Wobei ich aber auch sagen muss, dass ich „klassisches Arschloch-Verhalten“ nicht bloß aufs biologische Geschlecht reduzieren möchte. Leute sind meistens aufgrund von Aussagen, Ansichten und Verhaltensweisen her scheiße, nicht unbedingt aufgrund weiblicher oder männlicher Geschlechtszuweisungen.

 

Eltern und Gesellschaft nehmen den Mädchen ein offen aggressives Verhalten eher übel, so dass Mädchen lernen müssen, andere Ausdrucksformen von Wut zu finden. Wie zeigst du deine Wut?
Das ist eine sehr persönliche Frage, auf die ich nur im Ansatz eingehen möchte. Ich bin eine eher impulsive Person. Was mir nicht passt wird adressiert, bei Leuten, die ich mag fällt mir das schwerer, als bei Leuten, die ich nicht kenne. Wie ich auch schon oben geschrieben habe, zeige ich Wut und Aggressionen oft sehr deutlich und lasse das mein Gegenüber auch spüren, da bin ich eher rigoros und konsequent. Das soll aber nicht heißen, dass das auch immer gut und angemessen ist und mich darüber hinaus nicht auch oft in (Folge-)Konflikte bringt.

 

Auch Punk/HC ist nicht frei von Sexismus, Rollenklischees. Beispiele gibt es zu genüge. Benenne negative wie positive Beispiele, die dich aufregen, die dich motivieren oder beeinflussen…
Mich stört oft, wenn Bands auf Plakaten oder im Internet mit „female fronted“ deklariert und als besonders hervorgehoben werden. Eigentlich zeigt es doch nur, wie männlich dominiert diese Szene, bzw deren Akteur*innen sind. Ich frage mich, warum es als besonderes Aushängeschild gesehen wird, wenn Frauen* in Bands beteiligt sind, aber augenscheinlich dann auch nur, wenn sie singen…noch nie habe ich ein Plakat gesehen: „female drumming/guitar/ bass“…oder aber auch sowas wie „male fronted“ – da wird direkt von ausgegangen, dass „selbstverständlich“ Männer* in Bands spielen und in der Musikszene aktiv sind. Impliziert das, dass Frauen* unmusikalisch seien, oder warum immer wieder diese Verwunderung? Besonders hervorgehoben werden gerne auch (vor allem von (Cis-)Männern*) „all girl“-Bands, die dann aufgrund der Tatsache, dass sie augenscheinlich eine reine Frauen*band sind direkt dem Riot-Grrrl-Spektrum zugeordnet werden…
Was mir extrem auf den Piss geht ist Mackerscheiße, zum Beispiel „extrem hartes männliches violent dancing“ im Moshpit. Egal in welcher Intensität getanzt wird, ich bin immer hauptsächlich dafür da, mir das Konzert anzugucken, anstatt immer abgelenkt aufpassen zu müssen, dass mir niemand auf die Nase haut oder mir ein Fuß auf den Kopf knallt – oft werde ich dann als Zicke, Spielverderber*in oder Emanze wahrgenommen, letzteres werte ich allerdings eher als positiv =).
Über eine andere Sache bin ich oft in Diskussionen mit Menschen, die ich persönlich und politisch sehr schätze, die dennoch in diesem folgenden Punkt eine andere Meinung vertreten, nämlich, dass es okay ist, wenn Typen ihre T-Shirts ausziehen, weil sie (neben vielen anderen genannten Gründen) ihre geilen Tattoos auf ihren stählernen Körpern darbieten wollen. Das ringt mir lediglich ein müdes Lächeln ab!
Ich hab da nach wie vor keinen Bock drauf und weiß auch genau warum – das ist eine klare Reproduktion geschlechtlicher Ungleichstellung – oder wie viele Frauen* siehst du oben ohne auf Konzerten?
Ich hab einmal mein T-shirt auf’m Konzert ausgezogen – als Statement – und musste mir prompt im Anschluss eine Diskussion und Beschwerde anhören vom Typen, der in der Band vorher gesungen und während dem Gig sein Shirt ausgezogen hat…mir das vorzuhalten fand ich ehrlich gesagt extrem unverschämt und dreist! FUCK OFF and DIE, Alter! Aber lade deinen Müll nicht bei mir ab – ich bin nicht fürs Reinwaschen deiner weißen Weste verantwortlich. Vielleicht hilft erst mal nachdenken und nachwirken lassen, um zu erkennen, was an diesem Beispiel irgendwie faul ist! Zudem muss ich aber auch sagen, dass ich eher zu der Sorte Leute gehöre, die auch nicht unbedingt immer und überall Nacktheit und den Austausch von Intimitäten zwischen Leuten sehen will.
Das ist zwar ein anderes Kapitel, aber durchaus auch mal wert, sich darüber Gedanken zu machen. Was dabei vermeintlich als „offen und als Inbegriff von Freiheit“ gilt und im Umkehrschluss, diejenigen, die es kritisieren als „prüde“ diffamiert, sind im Übrigen Vorwürfe, die sich Feminist*innen geschichtlich betrachtet ständig anhören mussten (→ Stichwort: Lila Latzhose!). Sex-Positivismus ist nicht immer die anzustrebende Spitze der Gewinner*innen-Riege. Ich muss ja auch keinen Sex haben um Sexismus scheiße zu finden! Trotz meiner genannten Negativ-Beispiele ist Punk/Hardcore, habe ich durch Musik und Konzerte viele tolle Menschen kennen gelernt, mit denen ich viel Austausch hatte, die mich positiv beeinflussen, und die mir immer wieder positives Feedback vermitteln. Es gibt eine ganze Reihe von coolen Leuten, die coole Sachen in die Szene hineintragen und Dinge angehen, die nicht gut laufen, ganz viele mit denselben Ideen und Ansichten. Und es ist überhaupt nicht schwer auf sie aufmerksam zu werden und sie zu finden. Diese Leute motivieren mich extrem, genau an dem Punkt weiterzumachen – wo, wenn nicht in der eigenen Hood beginnen, emanzipatorische Ansprüche zu verbreiten und einzufordern.

 

Welche Möglichkeiten nutzt du, um geschlechtsspezifische Verhaltensweisen und gesellschaftliche Hierarchien zu thematisieren?
Meinst du privat oder in meiner Rolle bei Finisterre? Also als Sänger*in nutze ich sowohl die Bühne (obwohl ich eigentlich mehr vor, als auf der Bühne stehe) in Form von Ansagen, als auch in Texten.
Hm, und ansonsten glaube ich schon, dass ich ein Auftreten habe, was als sehr selbstbewusst und emanzipiert wahrgenommen wird und Leute im Gespräch mit mir wahrscheinlich auch recht schnell merken, dass ich weder eine von mir erwartete Geschlechterrolle übernehme, als auch, dass ich durchaus sage, was ich denke und meistens Aussagen über geschlechtsspezifische Verhaltensweisen oder Hierarchien nicht unkommentiert lasse. Egal ob auf Konzerten oder bei anderen Gelegenheiten (Uni, Kino, auf der Arbeit, im Supermarkt, in der Sauna,…) bekomme ich Gespräche dieser Art mit, dass Menschen sich in irgendeiner Form sexistisch, rassistisch und heteronormativ äußern, versuche ich zu agieren – manchmal mit einem dummen Spruch, manchmal mit einem lauten (ablehnendem) Lachen, manchmal auch nur nonverbal, aber manchmal auch mit einer direkten Konfrontation und Zur-rede-Stellung der jeweiligen Personen über das konkret Gesagte. Da ich eher impulsiv bin, kann ich mich sogar nur schwer zurück halten und kam das ein oder andere Mal auch schon in brenzlige Situationen, weil ich alleine war.
Privat, also außerhalb der Band, ist das ein Thema, was mich sowohl im allgemeinen Leben, als auch beruflich sehr beschäftigt. Es kommt total oft vor, dass ich im Freund*innenkreis darüber spreche und auch immer wieder damit konfrontiert werde, wenn wir selber Veranstaltungen/Konzerte machen. Eine weitere geeignete Möglichkeit ist der inhaltliche Austausch, sowohl auf politischen Veranstaltungen, als auch in politischen Gruppen.
Beruflich bewege ich mich sehr stark in Bereichen, wo gesellschaftliche Hierarchien immer wieder aufs Neue reproduziert werden. Zum Beispiel habe ich mehrere Jahre mit Frauen* gearbeitet, die der Sexarbeit nachgehen – da ging es ganz viel um Rollen- und Körperbilder und gesellschaftliche Erwartungen und konkrete Hierarchie- und Machtverhältnisse in deren Arbeit mit den Freiern. Immer wieder ergab es sich, dass wir erkannten, wie unterschiedlich Bilder von Weiblichkeit sein können, das haben wir dann mit großem Spaß an uns selber erkannt, denn vom äußerlichen Erscheinungsbild hätten wir gegensätzlicher nicht sein können – das war und ist für mich emanzipatorische Alltagspraxis. Momentan bin ich für eine Uni tätig und erarbeite ein Konzept zur sexuellen Bildung für angehende Lehrer*innen, wo es ganz konkret um Sexualität, sexuelle Vielfalt, dessen ganzheitliche Vermittlung für Menschen aller Altersgruppen, und vor allem aber auch um die Reflexion der eigenen sexuellen Identität und den persönlichen Zu- und Umgang mit Sexualität geht.
Ich habe auch mal einen Workshop für männlich sozialisierte Personen (so genannte Cis-Männer) gemacht, wo es um einen pro-feministische Zugang und der konkreten Auseinandersetzung mit der eigenen Männlichkeit/ männlichen Identität und den damit verbundenen gesellschaftlichen Privilegien in Form einer Selbsterfahrung ging.
Ach ja, und auf Konzerten verkaufe ich Urinellas (4)und verfolge mit großer Freude, dass das bei Leuten die unterschiedlichsten Reaktionen und Irritationen auslöst!

 

Dir ist es ein wichtiges Anliegen, den Riot Grrrl-Gedanken in die männerdominierte HC-Szene zu transportieren. Welche konkreten Maßnahmen sind hilfreich, diese Dominanz aufzubrechen und eine Weichenstellung/Gleichstellung zu erreichen?
Empowerment! Einfach tun, auf was ich Bock habe. Wenn ich Musik machen will, frage ich nicht, ob ich das darf oder gut mache, sondern eigne mir den Raum an und lasse mich nicht aus Gründen vermeintlicher Ansichten, dass „Hardcore kein Mädchensport“ sei, weder unterbuttern, noch auslachen. Ich will ernst genommen werden! Und ich denke, das werde ich auch! Auch ohne patriarchale Strukturen.
Die Geschichte der Riot-Grrrl-Bewegung finde ich sehr empowernd und ist für mich ein großer Einflussfaktor Musik zu machen. Da ich nicht (ausschließlich) auf meine Rolle als Sänger*in reduziert werden wollte, habe ich angefangen Gitarre zu lernen. Einige meiner engsten Freund*innen erging es genauso, auch sie wollten ein (weiteres) Instrument erlernen und so gründeten wir eine Band, in der wir uns alle an neuen Instrumenten und dadurch neuen Rollen erproben können. Wir beziehen den Riot-Grrrl-Gedanken explizit mit ein, lieben den rauen, wütenden und selbstbestimmten Charakter und finden Lady*feste einfach toll! Ergibt sich in irgendeiner Form zukünftig einmal der Zufall, irgendwie an der Erziehung eines Kindes beteiligt zu sein, dann würde ich versuchen,  auf konkrete Wünsche hinsichtlich Musik einzugehen – da verhält es sich in etwa so wie mit dem Fahrrad-Beispiel von vorhin, es scheint Instrumente zu geben, die vermeintlich als Jungen*- oder Mädchen* adäquat geeignet zu sein(?!), das ist wahrscheinlich der Grund, warum es im Verhältnis so viel weniger weiblicheDrummer*innen gibt und ich bin überzeugt, dass das kein „natürliches“ Mädchen*ding, sondern dass das ein Produkt verfehlter Erziehung ist – da fängt wieder der Kack mit dieser kulturhistorischhervorgebrachten gequirlten Scheiße an, Mädchen* seien emotionaler und deshalb sei Keyboard oder Querflöte spielen besser geeignet, während zu Jungen* natürlich ein Schlagzeug passe, wo sie sich mal ordentlich dran austoben können, ganz Ratio, oder ein anderes Instrument, Hauptsache verstärkt gespielt (also E-Gitarre, Bass). Konkret sind Maßnahmen doch immer dann, wenn sie vertreten werden…dass versuche ich…als „Vorbild“ wäre wohl zu hoch gepokert, ich bin keine abgeklärte arrogante Person, dennoch weiß ich was ich will, das ist doch zumindest eine gute Voraussetzung!

Anmerkungen:

(1) Empowerment: Strategien und Maßnahmen, die den Grad an Autonomie und Selbstbestimmung im Leben von Menschen oder Gemeinschaften erhöhen sollen und es ihnen ermöglichen, ihre Interessen (wieder) eigenmächtig, selbstverantwortlich und selbstbestimmt zu vertreten.
(2) s. Artikel “Intersexualität
(3) cisgender/cis* bezeichnet Personen, die sich mit dem bei ihrer Geburt zugewiesenen Geschlecht weitestgehend identifizieren.
Die Bandbreite dessen, was Cisgender umfasst, ist ebenso groß wie bei Transgender – von klassischer Geschlechterkonformität über Kritik an manchen geschlechtlichen Zuschreibungen bis hin zum Unwohlfühlen mit der zugeschriebenen Geschlechterrolle. Gemeinsam ist allen Cisgender-Personen lediglich, dass sie nicht trans* sind.
(4) Urinellas: Die Urinella ist ein außergewöhnliches Hilfsmittel, um Frauen das Urinieren im Stehen zu ermöglichen. Also quasi für Frauen, die „drüber stehen“, oder aber einfach für „angehende Stehpinklerinnen“. Bei der Urinella handelt es sich um einen trichterförmigen Gegenstand, der den Urin aufnimmt, und ihn über einen Trichterausgang wieder ableitet.

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