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Mettwürste zum Fest

Er packte meine Hand in der Supermarktkassenschlange und sagte: „DU AUCH!“ Er war ein winziger, froschartiger Mann, kaum größer als 1,20m, und um meine Hand packen zu können war er aus der Nachbarschlange durch die Absperrung geklettert. Sein Kopf war fast völlig kahl, nur einige dahinsiechende Haarbüschel standen steil in die Höhe. Die Gläser seiner Brille waren so dick, dass man seine Augen nicht erkennen konnte und er schnaufte und ächzte wie etwas, das nicht mehr lange schnaufen und ächzen wird. Auf der rechten Wange hatte er ein Feuermal. Alle sahen her. „ES IST WIE EINE ZWEITE HAUT!“, sagte er. „ES UMGIBT DIE LEUTE. ICH WEISS ES, WEIL MICH UMGIBT ES AUCH.“
Ich sah zu Boden und sagte: „Bitte behelligen Sie mich nicht mit Ihren Problemen."

„DABEI HAST DU GLÜCK. DU HAST ES NUR IM GESICHT. SCHAU MICH AN! WENN ICH ES SCHAFFE, MUSST DU DIR WIRKLICH KEINE SORGEN MACHEN."
„Sie täuschen sich", sagte ich. „Ich weiß nicht, was Sie meinen."
„ICH HAB KEINE ZEIT FÜR DEN BLÖDSINN!“, sagte er.
„DU BIST NOCH NICHT SEHR WEIT. DU BIST GERADE ERST GEBOREN. WENN DU SOWEIT BIST, KANNST DU DICH MELDEN. DANN KÖNNEN WIR WAS MACHEN. VIELLEICHT."
Er kletterte auf ein seltsam aussehendes Gefährt mit drei Rädern und einem Sitz, wobei ihm zwei alte, unglaublich hässliche Frauen halfen. Er rammte seine Tüte hinter sich, klopfte mit der flachen Hand darauf, ohrfeigte plötzlich eine der zwei alten, unglaublich hässlichen Frauen und ließ das Gefährt an. Dann rumpelte er aus der Tür, wobei er fast einen Mann umfuhr, der in dem Moment um die Ecke bog. Die beiden alten, unglaublich hässlichen Frauen folgten ihm. „Er täuscht sich“, sagte ich zur Supermarktkassiererin und meinem schweigenden Publikum. Ich hatte irgendwie das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. „Ich weiß gar nicht, was er meint. Es ist nur dieses Plakat an der Drehtür, wenn man reinkommt.“
„Welches Plakat?"‚ fragte sie.
„Das, auf dem ‘Mettwürste zum Fest' steht.“
 „Und? Was ist mit dem?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es auch das Bild, so ein Teller voller Würste, in dieser kranken fleischigen bleichen Wursthautfarbe. In Verbindung mit der Überschrift macht mich das irgendwie fertig. Ich muss mir immer diese ganze Haut vorstellen, verstehen Sie, die Haut allein. Ausgebreitet auf dem Boden wie ein Tanzparkett und Sie und ich und wir alle, wie wir darauf tanzen. Zum Fest. Während es unter uns quietscht und stöhnt und eiert. ich weiß nicht, ich kann's nicht erklären.“
„Ein Radikaler", sagte der Mann in der Schlange hinter mir. „Militant. Und wahrscheinlich gefährlich. Seit zweiunddreißig Jahren bin ich bei der ÖBB Schalterbeamter, und ich weiß, wenn ich so einen vor mir hab."
Die Kassiererin wirkte plötzlich sehr wütend. "Die Mettwurst", schrie sie mich an, "ist eine Rohwurst aus kräftig gewürztem Hackfleisch vom Schwein, teilweise finden sich auch Anteile von Rindfleisch darin. Sie wird durch Räuchern oder Trocknung haltbar gemacht. Je nach Rezept und Region variieren Größe, Feinheit des Hackfleischs, Würzung und Dauer der Trocknung. Frischem Mett am ähnlichsten sind Zwiebel- oder Streichmettwurst. In Süddeutschland, Österreich und der Schweiz wird unter Mettwurst eine streichfähige, der Teewurst geschmacklich und sensorisch ähnliche Wurst verstanden.“
„Ehe sensorisch ähnliche Wurst?“ fragte ich. "Sie rufen besser jemanden“, sagte eine Frau aus der Nachbarschlange. „Bevor das noch ausartet."
Aber die Supermarktkassiererin ignorierte sie. "Wir kennen ihren Fall“, sagte sie zu mir. „Wir haben vier oder fünf davon hier, in der Woche. Ich weiß nicht, wie er es macht, aber er hat Zeit! Zeit hat er, für all den Blödsinn. Und glaubt, er weiß alles! Von allen den Leuten hier im Laden, allen Leuten in der Schlange da, allen Leuten auf der Straße und auf der ganzen Welt glaubt er, er allein weiß, wie 's läuft!“
Das war nicht ganz falsch, aber bevor ich versuchen konnte, zu erklären, dass das meiner Meinung nach JEDER so machte, dass das eine Art psychologischer Schutzmechanismus war angesichts klingelnder Wecker und der Gesichter hinter Windschutzscheiben auf der Gegenfahrbahn, begann die Kassiererin damit, Dinge unter der Kasse hervorzuholen und mich damit zu bewerfen. Es waren nur sehr kleine Dinge, schon von Anfang an, und im Akt des Werfens wurden sie noch kleiner. Sie waren im Grunde schon fast nicht mehr vorhanden, als sie mich trafen. Trotzdem trafen sie mich, Stück für Stück, und trotzdem taten sie weh. Sie taten sogar deshalb umso mehr weh, weil sie so klein waren. ich verstand das nicht. Wenn sie wenigstens groß wären, dachte ich. Dann wäre das leichter zu ertragen. Es waren alles richtige Dinge, aber sie waren so klein. Eines davon war ihr Ehemann. Ein weiteres der Rohbau eines Hauses. Der Preisunterschied für den Liter Benzin in Österreich und Deutschland war dabei. Ein Ahornbaum in einem Karton. Ein Mobiltelefon. Eine billige Zigarettenmarke. Das sonntagvormittägliche Radioprogramm. Die Nacht mit fünfzehn, in der sie entjungfert worden war. Ein Fotoalbum, auf dem „Italien“ stand. Ein handtellergroßer und blau blinkender Christbaum. Ich sagte es sogar laut: „Wenn sie wenigstens groß wären."
„Ich hol jetzt den Filialleiter“, sagte sie. Und hier kam der Filialleiter. Ein riesiger sterbender Prügel von einem Mann, mit grauen Haaren, dämlich grausamen Gesicht und sehr präzise gestutztem Bart. Davon abgesehen sah er aus wie ein gut gefütterter Achtjähriger (Das sind die schlimmsten.)
 „Folgen Sie mir ohne weitere Anstalten", sagte er. Ich folgte ihm ohne weitete Anstalten. In seinem Büro ließ er sich hinter dem Schreibtisch in einen Sessel fallen und begann auf der Stelle, von verschieden rätselhaften Dingen zu sprechen. Zum Beispiel davon, dass alle seine Exfreundinnen Birgit hießen, und seine jetzige Freundin auch. „Das ist praktisch, da kann man sich nie versprechen", sagte er. Dass er Formel1-Fan war und sich nur deshalb selbst einen Ferrari gekauft hatte (einen gelben), weil man ohne Ferarri in Imola keinen Parkplatz bekam.
„Kommst du mit deinem normalen Auto - nix! Aber mit dem Ferrari weisen sie dir sofort einen Parkplatz zu.“
„Der Bemie Ecclestone“, schrie er auch mehrere Male. Bernie Ecclestone".
Danach holte er eine Urkunde aus seiner Schreibtischlade, die irgendwie bescheinigte, dass er der beste Filialleiter im ganzen Bundesland war. „Der Beste!", schrie er. "Der Beste!“
Plötzlich wurde er ernst. „Hör mir zu“, sagte er. "Ich weiß, was dich drückt. Ich kenn das von mir selber. Früher hab ich das Gefühl gehabt, dass alle Dinge in mir nur so herurumrutschen, einfach durcheinander. Alles was du machst, alles was du machen kannst, verstehst du? Ich kann's nicht erklären. Eine Zeit war ich jeden Tag betrunken, hab sämtliche Frauen gepimpert."
„Sämtliche Frauen?", fragte ich.
„Und mit nicht geringem Vergnügen! Aber das ist auch alles nur in mir rumgerutscht. Das war ganz schlimm. Es war kein schönes Gefühl. Aber ich hab mich selber da rausgezogen. Und weißt du wie?“
„Wie?“
„Ich hab mich trainiert, Dinge zu mögen.“
„Sie haben sich trainiert, Dinge zu mögen?“
„Ich hab mit ganz kleinen Sachen angefangen, sagen wir, einem Bügeleisen. Oder einem Lebkuchenherz. Magst du Lebkuchenherzen?"
„Nicht besonders.“
„Siehst du. Aber die Leute wissen nicht, was sie machen sollen, verstehst du? Sie gehen raus und da ist alles da und es wird von einem erwartet, dass man sich zurechtfindet. Ja aber wie, frag ich dich, wie soll das gehen, wenn du gleich von Null auf Hundert durchstartest. Deppen. Einen Marathon fängst du auch nicht einfach so an, da brauchst du Training. Wenn du den Führerschein machen willst, musst du dafür lernen. Weißt du, was ich meine?"
„Sie spinnen doch.“
„Ganz typisch, ganz typisch. Eine Antwort wie aus Lehrbuch. ich hab mich trainiert. Zuhause bin ich gesessen, hab meinen Tisch angesehen und mir gesagt: Das ist mein Tisch. Ich hab ihn nicht besonders gemocht, er ist sogar ziemlich hässlich, ich hab ihn von meinen Eltern geerbt. Aber, hab ich mir gesagt, dass weiß ja der Tisch nicht, verstehst du, dem Tisch ist ja das egal, was ich mit ihm verbinde. Also dem Tisch an sich.“ ‚
„Aha.“
 „Dann hab ich weitergemacht mit der Lampe. Oh Gott! Hat meine Frau gekauft. Und so weiter. Am Schluss hab ich sogar geschafft, meine Frau zu mögen.“
„Ehrlich?“
„Plötzlich war alles einfach. Oder einfacher. Aufstehen in der Früh. Verkehrspolizisten. Das Pannendreieck im Kofferraum. Die Liebe in den Romane von Gernot Wolfgruber. Versicherungsformulare ausfüllen. Mit den Kindern spielen. Den Geschirrspüler ausräumen, und einräumen auch. Zusammen mit der Frau Hosen einkaufen gehen.“
"Das gibt mir schon zu denken. Vor allem das Letzte.“
"Eben." Er lehnte sich zurück. „Und weißt du was?“
„Was?“
"Jetzt mag ich auch dich. So einfach ist das.“
„So einfach?"
"Ich könnte sogar weitermachen, bis ich dich liebe. LIEBE! Das geht einfach so - Zack - und schon ist es passiert. Es ist nur ein kleiner Schritt. Ganz einfach, wenn man einmal damit angefangen hat.“
„Mir wär trotzdem lieber, Sie würden das lassen.“
„Zu spät. Ich liebe dich schon.“
"Bitte sagen Sie das nicht.“
„Ich LIEBE dich aber. LIEBE. LIEEEEEEBEEEE!“
Ich dachte darüber nach. Was konnte ich auch sonst tun. Alles in allem, dachte ich. Alles in allem. Er sah mich an. Nein, es war zu schwierig.
Das Gesicht, der Bart - eine Katze, die mit dem Schwanz an einer Mülltonne festgefroren ist, die Krallen kratzen über den eisigen Boden...ein fettes hässliches Kind mit dem Feuerzeug an einer Schnecke...die Liebe in den Romanen von Gernot Wolfgruber?

„Was ist damit?“‚ fragte ich. „Hast du schon mal einen Roman von Gernot Wolfgruber gelesen?“
„Nein.“
„Würde ich machen, an deiner Stelle. Dann weißt du, was ich meine." Ich dachte darüber nach. Er sah mich an. Aber irgendwas war jetzt anders. Vielleicht, weil er so zufrieden aussah. Sah er zufrieden aus? Mein Gott. War es möglich...
"Soweit wir das von hier aus sagen können", sagte er plötzlich und lehnte sich weit zurück, "wäre es um einiges beängstigender, wenn es einen Gott geben würde als das Gegenteil. Gesetzt ein Gott, ein Wesen, eine übergeordnete Entität oder was immer habe die Welt geschaffen, wie sie ist - mit allen inhärenten Fehlern, zugegeben - und sich dann zurückgezogen um das alles in Ruhe und ohne direkte Absicht auf Anerkennung oder Applaus zu beobachten. Was müssten wir daraus schließen?"
„Was denn?“, fragte ich.
"Nach menschlichem Maßstab würde das bedeuten, dass dieser Gott Stil hat. Und menschliche Maßstäbe sind alles, was wir haben. Ich weiß nicht, wie es dir damit geht, aber mich bringt die Vorstellung um den Schlaf."
So hatte ich das noch nie gesehen. Plötzlich musste ich lachen. Es kam spontan und frei und tief aus meinem Inneren. Es erstaunte mich selbst. Ich hatte das Gefühl, Jahre nicht mehr gelacht zu haben. Vielleicht noch überhaupt nie richtig. Er sah mich an. Dann begann auch er zu lachen. Da saßen wir, an einem sinnlosen grauen Nachmittag im sinnlosen grauen Büro des besten Supermarkt-Filialleiters im ganzen Bundesland, und lachten. Und lachten und lachten. Und lachten und lachten und lachten.
Und dann lachten wir nicht mehr.

 

© by J. Witek

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