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Polizeigewalt in französischen Vorstädten

Bild: Banlieue in Saint-Denis, Seine-Saint-Denis (Paris). / KoS (PD)
Bild: Banlieue in Saint-Denis, Seine-Saint-Denis (Paris). / KoS (PD)

Neun von zehn BundesbürgerInnen finden, dass die deutsche Polizei einen guten Job macht(1).

Wenn es um Diskussionen geht, wie eine gewaltfreie und herrschaftslose Gesellschaft aussehen soll, scheiden sich spätestens bei der Polizei die Geister.
Denn ein Ziel gewaltfreier AnarchistInnen ist die Abschaffung und Auflösung auch dieser Gewaltinstitution. In Frankreich sind über die Hälfte der PolizistInnen Front-National-WählerInnen. Junge Berufsanfänger werden dort gleich nach der Ausbildung zum Einsatz in die Banlieues (Vorstädte) geschickt - und agieren aus Angst so brutal wie die älteren Polizisten aus reiner Routine.

Aulnay-sous-Bois, nordöstlich von Paris, am Nachmittag, 2. Februar 2017. Es war eine Personenkontrolle, wie schwarze Jugendliche in französischen Vorstädten sie regelmäßig über sich ergehen lassen müssen. Racial Profiling (2) ist schon seit den Achtzigern gängige Polizeipraxis in Frankreich. Der Autor dieses Artikels lebt seit 16 Jahren in Frankreich: Ich bin als Weißer im normalen Alltagsleben seither ganze zwei Mal polizeilich kontrolliert worden. Für schwarze oder maghrebinische Jugendliche in den französischen Vorstädten ist das eine Zahl, die oft jeden Tag erreicht wird. Ich kann mir den riesigen Unterschied und die Auswirkungen auf Psyche und Lebensfreude nicht einmal vorstellen.
Zurück zum Ablauf der Personenkontrolle:
Théo, kein Vorstrafenregister, begrüßte im Hof eines Kulturzentrums drei Freunde; da kam eine Polizeistreife vorbei. Vier Polizisten stiegen aus. Von irgendwoher erschallte der Ruf "Ouais Pu Pu Pu!" - die übliche Warnung an Drogendealer. Natürlich war den Polizisten das Anlass für eine Personenkontrolle der vier schwarzen Jugendlichen, die sich gerade still verdrücken wollten. Laut Polizeibericht sei der Ruf von einem der vier gekommen, Sirou. Ein Polizist und Sirou standen sich direkt Gesicht gegen Gesicht gegenüber, da drückte der Polizist angeblich mit der Innenhand das Gesicht Sirous zurück. Für Sirou eine Ohrfeige. Jetzt ging Théo dazwischen; typisch für solche Fälle waren die unterschiedlichen Aussagen, die dann folgten.


Die Vergewaltigung Théos
Théo gab zu Protokoll, er habe ganz ruhig gesagt: "Warum machen Sie das? Der Schlag ist doch nicht nötig!", auf Französisch: "Cela ne vaut pas le coup!" Der Polizist schrieb in seinen Bericht: "Mach das ja nicht. Ich scheiss auf deine Kontrolle", auf Französisch: "J'm'en bats les couilles (de ton contrôle)." Das ist typisch: Die Lautmalerei ist ähnlich, gemeint ist immer ganz Unterschiedliches. Jetzt eskalierte die Situation, es gab ein Handgemenge, Théo wurde ergriffen, sein schwarzer Mantel fiel zu Boden. Drei Polizisten erfassten Théo, der sich wand, dabei rutschte ihm seine locker und tief sitzende Hip-Hop-Hose bis auf seine Oberschenkel. Théo wurde umgedreht und an die Wand gedrückt. Marc-Antoine, der vierte Polizist, schlug Théo mit dem ausgefahrenen metallenen Polizeiknüppel ("matraque télescopique") dreimal auf den Rücken, bevor er dann Théo mit diesem Metallknüppel direkt in den After stach. Théo wurde zu Boden geworfen und dann in Handschellen abgeführt. Erst auf der Polizeiwache wurde die Wunde entdeckt - Théo kam ins Krankenhaus, konnte dort seine Aussage machen und der Fall wurde so zur Pressemeldung und zum Skandal. (3)

Es war eine Vergewaltigung. Gleichzeitig war es eine kalkulierte Message innerhalb der patriarchalen "Kommunikation" zwischen Polizei und Jugendlichen: eine Verletzung der Ehre. Diese Gewalttat war der Auslöser für nächtliche Zerstörungen von Bushaltestellen, Steinwürfe auf Busse (die Busse in Aulnay stellten schnell den Betrieb nach 20 Uhr ein, Leute aus der Innenstadt kamen nicht mehr nach Hause), auf öffentliche Einrichtungen wie lokale Postämter (meist eh von Schliessung bedroht) oder die Feuerwehr, meist ungezielt, abgesehen von den wenigen Polizeirevieren in Reichweite natürlich. Nach einigen Tagen weiteten sich die Unruhen von Aulnay auf weitere Vorstädte von Paris aus. Die Jugendlichen wünschten sich ein neues 2005, das Jahr der Aufstände in den Banlieues.


Das "nique la police" in den Rap-Texten
Vorstadtaufstände, sog. "Émeutes" (vom Verb s'émouvoir: sich erregen), gibt es in Frankreich seit den Neunzigerjahren. Schon durch die geografische Randlage und die eigene Minderheitensituation blieben sie immer perspektivlos. Der Ablauf ist altbekannt, nichts davon ist neu: Ein spezieller, publik gewordener Fall von Polizeibrutalität ist nur der Tropfen, der das Fass der ständigen Demütigungen im Alltagsleben zum Überlaufen bringt: ständige Kontrollen; 60 % Arbeitslosigkeit der Unter-Dreissigjährigen in den meisten Vorstädten; mehr als 50 % Schulabbrecher, meist Jungs zwischen 13 und 16 Jahren, die dann oft im mafiös organisierten Drogenhandel ihr Geld verdienen. (4)

2005 war auch die Polizei der Auslöser: Sie verfolgte zwei Jugendliche, die sich in einem Elektro-Trafohäuschen versteckten, wo sie durch Stromschlag starben. Oft genug sterben Jugendliche aus den Vorstädten nach wilden Verfolgungsjagden mit der Polizei auch direkt durch Polizeischüsse.

Die Texte des französischen Rap und Hip-Hop seit Anfang der Neunzigerjahre sind voll von Polizeikritik: Das "nique la police" (nach dem englischen "Fuck the Police") gehört zum guten Ton eines jeden Rap-Songs. Die Rap-Texte erzählen sogenannte "versteckte" Geschichten vom Lebensalltag der Vorstadtbewohner, die durch die Musik eine weitere Verbreitung in die Öffentlichkeit hinein finden, als die Erfahrung der Leute selber, die auf die Vorstädte beschränkt bleibt. In den besten Texten wird der Rassismus der Polizei auf den Kolonialismus zurückgeführt, z.B. von der Gruppe "Ancrages" (Verankerungen): "Die Kanone des Kolonisten raucht noch, wenn sie in den Händen eines Bullenschweines liegt." (5)

Der Weg zur blutigen Rache ist in den Phantasien der Rapper aus den Vorstädten jedoch kurz: "Wenn mein Hass sinkt, dann nur, wenn die Bullenschweine tot sind und mir noch mehr als zehn Minuten zum Leben bleiben...", sang etwa Rapper Booba (Lunatic, Irrer) im Jahr 2000. (6)

Eine typisch misogyne Form des Heimzahlens sind auch Phantasien der Rapper von der sexuellen Eroberung von Ehefrauen oder Töchtern von Polizisten. Besonders extrem wird Rapper Le Bavar, der Sänger der Rap-Gruppe "La Rumeur" (Das Gerücht), der in seinem Stück "Je connais tes cauchemars" (Ich kenne deine Albträume) aus dem Jahre 2002 die Albträume eines Polizeikommissars in Szene setzt, der von Bewohnern der Vorstädte zu Kannibalen transformiert, ermordet und dann im Topf gekocht wird.

Solche Texte werden von der Polizeigewerkschaft regelmässig dem Innenministerium angezeigt, konservative PolitikerInnen empören sich und es kommt immer wieder zu Gerichtsprozessen gegen die Rapper, die sich oft lange hinziehen und ebenfalls die Öffentlichkeit beschäftigen. Dort wird dann darüber gestritten, ob solche Texte durch die Meinungsfreiheit gedeckt sind und in Wirklichkeit eine Art wirksames Abreagieren von Hassgefühlen sind, die die Leute vom Ausüben realer Gewalt gerade abhalten, oder ob im Gegenteil die Texte mitschuldig daran sind, ein Klima zu erzeugen, in dem dann islamistische Attentate auf Polizisten möglich oder für gut befunden werden. Darüber streiten sich auch SoziologInnen - es ist ein wenig wie die Diskussion um Gewalt bei Ego-Shootern und Killer-Videospielen. Es gibt aber noch eine dritte Variante der Interpretation solcher Phantasien: dass nämlich die direkten Opfer willkürlicher Brutalitäten selbst beschädigt sind und schon deshalb willkürlich und nicht emanzipatorisch reagieren - eine Umkehrung der Verelendungstheorie, die so neu auch wieder nicht ist.


Die Naivität des Vertrauens auf die Gerichte
Weil die Polizeigewalt gegen Théo sich nicht mehr vertuschen liess, besuchte sogar Präsident Hollande das Opfer am Krankenbett und unisono mit dem Präsidenten liess sich Théo zu dem in solchen Fällen immer wieder üblichen Aufruf an die Gewalt befürwortenden Jugendlichen verleiten: "Stoppt den Krieg, lasst uns geeint vorgehen. Ich vertraue den Gerichten." (7) Wer also der Gewalt der Jugendlichen widerspricht, setzt fast immer in naivem Glauben auf die Gerichte.

Auf das falsche Bewusstsein der jugendlichen Aufständischen wird hier leider mit falschem Bewusstsein reagiert. Dieser Glaube an die Justiz ist nämlich seit Jahrzehnten Lug und Trug des Rechtsstaats. Auch hier ist der Ablauf immer derselbe: Ein paar Tage wird bei solchen Skandalen sowohl in den Medien wie von PolitikerInnen nach konsequenter Bestrafung der polizeilichen Übeltäter gerufen, das schlechte Verhältnis Polizei-Bevölkerung wird beklagt, Reformen werden gefordert - dabei fehlt auch nicht der Verweis auf die BRD, wo dieses Verhältnis so viel besser sei. Dann setzt schnell eine Phase ein, in denen die Medien die Aussagen der Polizisten gegen die Aussage des Opfers stellen. Und die Polizisten sprachen nicht von einer Vergewaltigung Théos, sondern tatsächlich von einem "Unfall".

Eine besonders üble Art von Fake News, doch wie bei Fake News wird auch das dann ständig über die Medien wiederholt - und vor Gericht bei den Verhandlungen in der Regel übernommen. So steht Aussage gegen Aussage - und die betroffenen Polizisten werden freigesprochen, maximal versetzt oder einige Zeit vom Dienst suspendiert, bis etwas Gras über die Sache gewachsen ist. Die Dreistigkeit, mit der das im vorliegenden Fall wieder so ablief, hat sicherlich die Weissglut der aufständischen Jugendlichen noch einmal besonders befeuert, denn bei der tiefen Wunde Théos im After von einem "Unfall" zu sprechen, ist schon unglaublich. Es ist eine neuerliche Provokation.

Noch nie ist bei Morden durch die Polizei, bei Schikanen und Brutalitäten in den Vorstädten ein französischer Polizist zu größeren Gefängnisstrafen verurteilt worden. Ganz anders dagegen sieht die Rechtsprechung gegen die gewaltsamen Jugendlichen jetzt bei den Unruhen aus:

"Festgenommen werden im Allgemeinen nur die Jüngsten oder die, die nicht schnell genug weglaufen können. Sie werden nun vor den Haftrichter geführt und sofort verurteilt, trotz weniger handfester Beweise. Sie bekommen im Vergleich zu ihren Handlungen ganz unverhältnismässig hohe Gefängnisstrafen. Es scheint so, als sei die kollektive Hysterie einigen Richtern zu Kopf gestiegen, die lieber die öffentliche Ordnung als die individuellen Freiheiten verteidigen." (8)
Historische Vorbilder und aktuelle Versuche gewaltfreier Gegenwehr
Das Vertrauen in die Gerichte bringt also nichts, weil die Justiz mit der Polizei unter einer Decke steckt. Deswegen ist Théos Vertrauen in die Justiz des Rechtsstaats als Alternative zur "Émeute" auch keine alternative Form der Gegenwehr gegen Polizeigewalt.

Gewaltfreie Formen der Gegenwehr hat es gegeben und gibt es immer noch, sie werden jedoch in den Medien kaum wahrgenommen, historisch nicht aufgearbeitet oder von gewaltsamen Jugendlichen selbst durchkreuzt.

Die Grundbedingung einer gewaltfreien Strategie der Betroffenen in den Vorstädten wäre der Bruch mit dem selbstzerstörerischen Charakter der "Émeutes". So sehr sich manche Jugendliche nämlich die Aufstände von 2005 zurückwünschen, so deutlich muss konstatiert werden, dass gerade diese Aufstände gar nichts erreicht haben, nicht einmal minimale Verbesserungen. Die republikanische Naivität, die schon beim geforderten Vertrauen auf die Gerichte eine Rolle spielte, führte nach 2005 als einzig sichtbare Konsequenz zu Kampagnen der Eintragung auf Wählerlisten, also zur quantitativ erhöhten Stimmabgabe von BewohnerInnen der Vorstädte. Ein Grossteil dieser neuen Stimmen kam Hollande bei seiner Wahl 2012 zugute, es war der kleine Unterschied zu Sarkozy. (9)

Hollande versprach im Wahlkampf, jeden Polizisten mit individualisierten Kameras auszustatten. Name und Id-Nummer, lesbar auf der Uniform, sollten obligatorisch werden, ebenso wie die Aushändigung eines schriftlichen Belegs mit Namensunterzeichnung nach jeder Personenkontrolle. Ausserdem sollte die lange schon von sogenannten "Experten" geforderte "Nachbarschaftspolizei" in den Vorstädten eingeführt werden, d.h. zu Fuss oder auf dem Fahrrad patrouillierende Polizisten mit kleinen Büros in der Vorstadt, anstatt ausschliesslich patrouillierender Polizeiautos. Dies gehörte zu den Wahlkampfversprechen Hollandes, die sich nach seiner Wahl in Rauch auflösten, besonders übrigens auf unmittelbaren Druck der Polizeigewerkschaften. (10)

Ausgangspunkt einer gewaltfreien Strategie war in der Geschichte der Proteste aus den Vorstädten immer der Ausbruch aus dem begrenzten inneren Raum dieser Vorstädte. Mitte der Achtzigerjahre wurden, angefangen mit dem "Marsch für Gleichheit und gegen Rassismus" 1983 von den Vorstädten Marseilles durch ganz Frankreich bis nach Paris, in mehreren Märschen gleiche Rechte für die Nachkommen der Immigration gefordert, verschiedene bürgerrechtliche Organisationen begleiteten diese Aufbruchszeit.

Schon damals kam es jedoch zu internen Konflikten unter AktivistInnen, weil der gewaltfreie Charakter dieser Märsche hauptsächlich von zwei an ihrem Ursprung stehenden weissen christlichen Priestern vorgegeben wurde, was die Jugendlichen aus den Vorstädten bald mit rassistischer Begrenzung der Aktionsformen durch eine weiße französische Linke auslegte - als Perzeption ganz falsch übrigens, denn die französische ausserparlamentarische Linke ist alles andere als gewaltfrei. So wurde die mögliche Ausweitung einer radikal gewaltfreien und antistaatlichen Aktionsperspektive im internen Rassismusstreit für Jahrzehnte zerrieben und die Vorstadtjugendlichen zogen sich bis heute entweder auf Islamismus oder "Rassialismus" (ein positives Verständnis von Rasse), beides in hypermilitanten Ausformungen, zurück. (11)

Wie bei jedem authentischen Emanzipationskampf der Betroffenen muss die Forderung und Umsetzung gewaltfreier Gegenstrategien selbstbestimmt sein und aus den eigenen Reihen kommen. Beispiele, sogar einigermaßen erfolgreiche, gibt es: Weil die Jugendlichen der Vorstädte aus der Immigration stammen, kennen sie die aktuellen Kämpfe in den heutigen Kolonien des noch immer bestehenden Koloniallandes Frankreich. 2009 hatte Élie Domota mit explizitem Bezug auf Martin Luther King einen relativ erfolgreichen Generalstreik inklusive Tankstellenblockaden auf der zu Frankreich gehörenden Karibikinsel Guadeloupe angeführt - an solche Vorbilder und Beispiele könnte angeknüpft werden, denn sie sind den Jugendlichen und der eigenen Geschichtsschreibung der VorstadtaktivistInnen bekannt und werden respektiert. (12)

Dann gab es im Rap der Neunzigerjahre auch eine alternative Richtung, die etwa von der Gruppe "B.Vice", einer der ersten Rap-Gruppen in Marseille, vertreten wurde. Ihre Texte stammten aus der Tradition der drei Grundsätze "Love - Peace - Unity", wie sie etwa auch im US-Hip-Hop von "Arrested Development" aufgetreten sind. Soly Mbaé, der Sänger von B.Vice, ist bis heute z.B. in den Marseiller Vorstädten geblieben und kämpft als Sozialarbeiter in einem Kulturzentrum mit Tonstudio für eine berufliche Perspektive der dortigen, von Arbeitslosigkeit und Drogenmorden bedrohten Jugendlichen. Fianso ist ein weiteres Beispiel: Dieser sehr populäre und von den Jugendlichen respektierte Rapper war bei den Aufständen von 2005 aktiv beteiligt und meint jetzt: "Die haben nichts gebracht." Er ruft heute zu gewaltfreien Widerstandsformen auf. (13)

Jetzt haben im Fall der Vergewaltigung Théos zwei Studenten aus der Immigration von der Universität Paris-Nanterre, Issa Bidard und Yanis Rezzoug, zu einer Solidaritätsdemo am 11. Februar in der Vorstadt Bobigny aufgerufen. Sie legten in den sozialen Netzwerken bei der Mobilisierung immer wieder den Grundsatz "Nein zur Gewalt!" zugrunde und Issa gab auf seiner Rede noch einmal die Richtung vor: "Zeigt ihnen, dass wir intelligent sind; zeigt ihnen, dass wir keine Wilden sind; zeigt ihnen, dass wir Haltung zu bewahren wissen!" Rapper Fianso trat auf der Demo auf. Immerhin 2000 Leute aus den Vorstädten waren gekommen, aber auch 25 Mannschaftswagen der Gendarmerie und der Nationalpolizei.

Es ging gerade eineinhalb Stunden gut. Dann tauchte ein Trupp von nur etwa 20 bis 30 Jugendlichen auf, griff die Polizei sowie einige Geschäfte an und steckte Mülltonnen in Brand. Nach Aussagen der Zeugin Sarah waren diese Jugendlichen zwischen 13 und 16 Jahre alt. Und wieder zeigte sich, wie gefährlich solche willkürlichen Angriffe werden können: Das Feuer einer in Brand gesteckten Mülltonne in der Nähe des Departementgebäudes erfasste ein direkt davor parkendes Auto. Daraus stieg plötzlich eine Frau mit Baby aus und flüchtete. Vor Schreck hatte sie aber vergessen, dass ihre andere kleine Tochter auf dem Rücksitz zurückblieb.

Wie solche Vorfälle in den Medien umstritten sind, zeigt folgende Tatsache: Die Polizei behauptete nun, sie habe das kleine Mädchen aus dem Wagen gerettet, der bereits geraucht habe. In Wirklichkeit war es aber ein Bewohner der Vorstädte, Teilnehmer der pazifistischen Kundgebung, der das Mädchen gerettet hatte. Der Bürgermeister von Bobigny musste anderntags die Polizeimeldung revidieren und sich für den "Mut" des jungen Demonstranten, "der das Kind aus dem Auto gerettet hat", öffentlich bedanken. Sarah zur quantitativen Minderheit der Hypermilitanten: "Das waren nur vier oder fünf Leute, die Steine auf das Departementsgebäude geworfen haben, und nur eine Person, die das Feuer gelegt hat. Aber mehrere DemonstrantInnen sind sofort gekommen, um das Feuer zu löschen."

Issa und Yanis waren mit der Demo dennoch zufrieden: "Die Leute sind aus allen Schichten der Vorstädte gekommen. Das war außergewöhnlich. (...) Wir treten weiter entschlossen für unsere Grundsätze ein, die Leute zu mobilisieren und zu vereinen gegen jede Form von Polizeigewalt, in Ruhe, Würde und in Selbstachtung für die Unseren." (14)

Coastliner
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 417, März 2017, www.graswurzel.net

Fußnoten:

(1) Vgl. Daniel Friedrich Sturm: "Das Vertrauen in die Polizei ist so gross wie seit 20 Jahren nicht", in: Die Welt, 5.1.2017.

(2) Zur Praxis in der BRD, die es ebenso bereits seit Jahren gibt, vgl. den Artikel "Mit Racial Profiling gegen Sexismus" von Peter Novak, in: GWR 416, Februar 2017, S. 8.

(3) Zitate nach: Eric Pelletier, Jean-Michel Décugis in: Tageszeitung "Aujourd'hui en France", 9.2.2017, S. 3.

(4) Zahlen nach Laurent Mucchielli: "À Aulnay-sous-Bois se rejoue un scénario vieux de trente ans", in: Le Monde, 12.2.2017, S. 24.

(5) Ancrages (Verankerungen): "Crânes" (Schädel), Buch & Album: Leur laisser la France (Frankreich überlassen wir ihnen), Éditions Syllepse, Paris 2012.

(6) Booba (Lunatic, Irrer): "HLM 3" (Habitat à loyer modéré; wörtl.: Wohnung zu gemässigter Miete; gemeint sind Gebäude des sozialen Wohnungsbaus in den Vorstädten, der Ausdruck also etwa: Sozialwohnblock 3), auf dem Album Mauvais œil (Böser Blick), 2000.

(7) Théo, zit. nach Stéphane Gatignon: "Il faut refonder les rapports entre la police et les citoyens", in: Le Monde, 12.2.2017, S. 24.

(8) Laurent Mucchielli, siehe Anm. 4, a.a.O.

(9) Diese These begründen z.B. Gilles Kepel, Antoine Jardin: "Terreur dans l'hexagone. Genèse du djihad français", Gallimard, Paris 2015, S. 107f. Das Buch wurde jüngst ins Deutsche übersetzt, dies.: "Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa", Verlag Antje Kunstmann, München 2016.

(10) Vgl. Stéhpane Gatignon, siehe Anm. 7, a.a.O.

(11) Siehe zum "Rassialismus": "Selbstzerfleischungstendenzen", in: GWR Nr. 414, Dezember 2016.

(12) Vgl. "Erfolgreicher Generalstreik auf Guadeloupe. Élie Domota - ein neuer Martin Luther King?", in: GWR Nr. 339, Mai 2009.

(13) Vgl. zur Biographie Solys z.B. den Blog: http://cafaitdesordre.com/blog/2015/11/mots-pour-maux-du-monde/ Zu Fianso siehe: Stéphanie Binet: "Fianso, rappeur et pacificateur face à la police", in: Le Monde, 16.2.2017, S. 13.

(14) Zit. nach: Louise Couvelaire, Julia Pascual: "À Bobigny, la manifestation pour Théo L. dégénère", in: Le Monde, 14.2.2017, S. 11.