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Toleranz und Fremdverstehen

In der Natur ist Vielfalt ein Garant für den Erhalt eines Ökosystems. Je mehr unterschiedliche Lebensräume es gibt, desto mehr verschiedene Tier- und Pflanzenarten gibt es auch. Je mehr Arten, desto größer die Chancen, zu überleben. Und in der Gesellschaft? Wann wird Vielfalt als Bedrohung empfunden und wann als Bereicherung?

Der zunehmend schärfer werdende öffentliche Diskurs sowie Wahlerfolge populistischer Parteien haben die Frage aufgeworfen: Wie verbreitet sind (rechts-)populistische Einstellungen in der Bevölkerung und was sind das für Menschen, die sich mit solchen politischen Programmen identifizieren? Verschiedene empirische Analysen, vor allem aus politikwissenschaftlicher Perspektive, sind dem nachgegangen. In den Blick kamen auf diese Weise insbesondere sozioökonomische Faktoren, wie ein tendenziell niedriges Haushaltseinkommen und Bildungsniveau, aber auch regionale Merkmale: So ist die Neigung zu populistischen Positionen in den östlichen Bundesländern und in ländlichen Regionen verbreiteter.
Neben dem Anspruch, einen vermeintlichen Volkswillen zu vertreten, und einer Antiestablishmenthaltung, ist eine ablehnende Einstellung gegenüber Vielfalt kennzeichnend für diesen (Rechts-)Populismus.
Verunsicherung und Vorbehalte gegenüber Vielfalt ist auf populistischer Ebene an einer freund-Feind-Orientierung geknüpft. Verbindet sich die Ebene „die da oben“ – „wir hier unten“ mit dem Denkmuster „wir“ – „die anderen“, lässt sich von rechtspopulistischen Einstellungen sprechen.
Dabei ist Vielfalt eine Chance. Wenn Unterschiede nicht länger als Problem betrachtet werden, sondern als Potenzial für gegenseitige Bereicherung, wird das Anders-sein aufgewertet. Sowohl in Wien als auch in Köln haben die offiziellen Tourismus-Büros Stadtführer für lesbische und schwule TouristInnen herausgegeben, um jene mit dem Argument eines besonders toleranten, weltoffenen Reiseziels für sich zu gewinnen.
Doch solange Fremdheit Grenzen zieht, wird auf Fremdheit in dem Beziehungsverhältnis der eigenen Geschichte reflexionsbedürftig reagiert. Das Fremde erscheint als der natürliche Feind, als Bedrohung der eigenen Identität. Hiermit erhält das Fremde diffuse negative Eigenschaften und wird ausgegrenzt. Wenn der politische Ausgrenzungskurs – bezogen auf Migration – in die Verdrängung führt, dann vielleicht auch deshalb, dass die europäische Kultur aus Unbehagen den negativ besetzten Mythos des Fremden benötigt, um das Fremdartige zu instrumentalisieren.
Kanada versteht sich seit 1971 aus Überzeugung und mit Stolz als multikulturelle Gesellschaft. Auf die Herausforderung seiner multiethnischen Bevölkerungsstruktur antwortet es seit über 4 Jahrzehnten mit der Philosophie und Politik des Multikulturalismus.
Deutschland hat sich bisher um eine Antwort auf die Frage, wie es mit seinen stark gewachsenen und weiterhin wachsenden ethnischen Minderheiten umgehen will, gedrückt. Der öffentliche Diskurs über Migration und Integration bedarf in Deutschland einer grundlegenden Akzentverschiebung hin zu einem eindeutigen und klaren Ja zur Einwanderung.
Einwanderung muss als Notwendigkeit und Chance begriffen werden, nicht als Bedrohung. Probleme sollten dabei nicht tabuisiert werden, aber sie dürfen den Diskurs nicht beherrschen, was diese Tage der Fall ist. Horst Seehofer fordert eine Zurückweisung von Migranten an der deutschen Grenze als „Ausgleich zwischen Humanität und Ordnung“. Und die mediale Berichterstattung über „kriminelle Asylbewerber“ (Migrantengewalt) trägt zur immer lauter werdenden gesellschaftlichen Forderung nach einer „härteren Gangart“ bei. Medien beeinflussen also die öffentliche Wahrnehmung. So nennen sie sehr oft weiterführende Informationen zu nicht-deutschen Tatverdächtigen oder (mutmaßlichen) Täter*innen, indem sie primär Eigenschaften angeben, die die Person als jemanden mit nichtdeutschen Wurzeln erkennen lassen. Nichtdeutsche Tatverdächtige bzw. Täter*innen werden häufiger mit (im Zusammenhang mit ihrer Herkunft stehenden) Attributen beschrieben als Deutsche. So wird öfter ihr Aussehen, ihre Sprachkompetenz oder ihr sonstiges Verhalten angesprochen, das als besonders von der Norm abweichend dargestellt wird.
Im Gegensatz dazu werden bei deutschen Tatverdächtigen und Täter*innen häufiger deren Motive diskutiert und deren Taten dadurch eher relativiert. Wenn über Menschen mit nichtdeutschen Wurzeln häufig im Kontext Kriminalität berichtet wird, fördert dies die Bildung einseitiger Stereotypen. Hinzu kommt, dass die häufige Rezeption entsprechender Nachrichten die Furcht vor Kriminalität tendenziell erhöht. Insbesondere BILD tut sich hervor und appelliert mit ihrem Lieblingsthema „Kriminelle Ausländer“ an die rassistischen Fantasien ihrer Leser*innen.
Erst wer bereit ist, Unterschiede zu erkennen und als normal verstehen und zu tolerieren und in den Dialog zu treten, die Kulturen als Varianten zu verstehen, die keine übergeordneten Strukturen produzieren, dann kann Einheit als differente Vielheit(en) verstanden werden. Dies ist das wichtigste Prinzip des Zusammenhangs von Toleranz und Fremdverstehen.