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30 Jahre Mauerfall - Vom Wahnsinn befallen

photo credit: zumpe http://www.flickr.com/photos/45213019@N00/4088782411 by-nc/2.0
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So so, 30 Jahre Mauerfall. Auffällig war in der Zeit zuvor der Tenor der Leipziger Demonstrant*innen, die sich traditionell jeden Montag Abend auf die Straße wagten und ein lautstarkes "WIR SIND DAS VOLK"-skandierten.
 Ebenjener Slogan, der seit 2014 von PEGIDA vereinnahmt worden ist und mit dem die AfD sogenannte populistische Demokratiekonzepte betreibt.

Es folgte kein christlicher Nächstenliebe-"Macht hoch die Tür, die Tor macht weit"-Gesang oder ein volksmusikalisches und deutsches soldatisches "Muss i denn zum Städtele hinaus", sondern ein "Wind of change". Der war zumindest in der Bornholmer Straße zu spüren, als in der Nacht des 9.11. der Grenzübergang geöffnet wurde.

Wer das TV-Gerät einschaltete war erstaunt, inwieweit ein sprachlicher Ausdruck jegliche Gefühlskontrolle über Bord warf. Quiz- und Showmaster aus den "alten" Bundesländern veranstalteten ihre Servus, Gruezi und K.O.-Propaganda nun auch in den neuen Musikanten- und Sonderstadeln der Republik, um unisono von einem "Wahnsinn" zu sprechen. "Wer hätte das gedacht, dass ich heute vor Ihnen stehen darf...WAHNSINN!" brüllte Karl Mork in aufgeregter, freudetrunkener Stimme zum Musikantenstadl 1989 in Cottbus. "Ich kann's nicht glauben, ich kann's nicht glauben". Als wäre ein Märchen wahr geworden, inklusive Monster (Stasi und SED-Führung), Ritter (Karl Moik) und WIR SIND DAS VOLK-Gästen. "Es kann nicht wahr sein". Vielleicht wähnte Karl sich auch in einem Albtraum, aus dem er gerade wach geworden ist, als ein leibhaftiger Trabi ins Studio einrollte.

Auch der damalige Berliner Oberbürgermeister, Walter Mumpitz..äh Momper, der so überwältigt war und stammelte: "Ich konnte es gar nicht glauben, WAHNSINN!" Auch heute noch zeigt sich Walter Momper von Wahnsinn befallen und sagt rückblickend zum Mauerfall: "Es war Wahnsinn!"
Nach so viel Wahnsinn müssten die geschlossenen Abteilungen doch überquellen. Nicht zuletzt weil damals die deutsche Bundespost der DDR im Sinne der deutsch-deutschen Freundschaft 60 bundesdeutsche Briefmarken der letzten 40 Jahre zurückschickte. Wahnsinn, oder? Und David Hasselhoff hielt sich gefühlt eine Ewigkeit auf Platz 1 der deutsch-deutschen Charts. WAHNSINN! Und bei amazon können Ossis und Wessis und Dazwischis (also diejenigen, die Crossover sind: Wessis, die in den Osten zogen und Ossis, die in den Westen zogen) den Wahnsinn sogar auf DVD kaufen: Wahnsinn - plötzlich ist die Mauer weg - 20 Jahre Mauerfall in der Standard Version.
Honeckerland ist abgebrannt. Und was machten eigentlich die Christ*innen, wie erinnern sie sich an dem Mauerfall? Richtig! Sie sind vom Wahnsinn befallen, wie eine Frau (Ende 60) der katholischen Wochenzeitung, Tag des Herrn, offenbarte: Wahnsinn! Seit dem Herbst 1989 kommen mir die Tränen, wenn wir das Lied von den neuen Wegen singen: „Vertraut den neuen Wegen, auf die uns Gott gesandt. Er selbst kommt uns entgegen. Die Zukunft ist sein Land. Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit. Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit.“
Und was passierte, als der Wahnsinn langsam verflog? Ernüchterung, viele neue Bausparverträge und neue Erkenntnisse. So wie Gaby, die bürgerlich eigentlich Dagmar heißt, und als TITANIC-Covergirl berühmt und berüchtigt wurde. Auf der Titelseite des Satiremagazins Titanic prangt eine Frau in Jeans-Jacke. Sie hat rot leuchtende Minipli-Haare und hält eine geschälte Gurke in der Hand. Eine Träne rollt ihr über das Gesicht. Daneben steht: "Zonen-Gaby (17) im Glück (BRD): ,Meine erste Banane'."
Zonen Gaby aka Dagmar wohnt in in einem Vorort von Worms. Dass sie vor 30 Jahren mit einer geschälten Gurke in der Hand weltberühmt wurde, damit hat Dagmar zu leben gelernt.  Andere tun sich schwer, wenn sie an den Mauerfall denken. Der Wahnsinn bröckelt. Viel fühlen sich betrogen, verraten, verdrängt, ausgegrenzt und heimatlos im eigenen Land. Nach Mauerhüpfer*innen und West-Wanderungen, Samba und Begrüßungsgeld, folgt Hetze, Häme und Hass. Als die Flüchtlingsströme aus dem Osten der Republik nicht abreißen wollen, fürchtete der Bremer Wissenschaftssenator  und spätere Bürgermeister Henning Scherf (SPD), "daß wir bald Großstadtkriege wie in den USA haben". Selbst führende Unionspolitiker, die bislang standhaft in Verwandtenliebe machten, begannen sich zu sorgen. Nachbar*innen hatten eine Übersiedler-Familie in Essen auf der Straße als "DDR-Schweine" beschimpft. Die damalige Standarderklärung, Rassismus und Deutschtümelei seien in diesem Land halt nicht auszurotten, taugt nun nicht mehr zur Analyse der Fremdenfeindlichkeit dieser neuerlichen Art, die ausschließlich auf Menschen zielt, die nach herrschender Auffassung "Landsleute" sind. Wenn es damals die AfD schon gegeben hätte, ich bin mir nicht sicher, ob dieser Wahnsinn bereits als ein "Umvolkung", als ein "Austausch der Völker" instrumentalisiert worden wäre. Der Wahnsinn , so zeigt sich, wiederholt sich und hat einen festen Platz in der Geschichte...nicht nur in Deutschland.