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Ein Indianer kennt keinen Schmerz!

Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz in meiner Kinder- und Jungendzeit gehört habe. In dieser Zeit haben wir Kinder im Wald eben auch Indianer und Cowboy gespielt. Eigentlich war das ja mehr Verstecken und Suchen. Also eine Person oder ein Team geht vor, die andere Person oder das andere Team wartet nach verabredete Zeit („Zähl bis 100!“) und dann ging das Abenteuer auch schon los. Ausgestattet mit Holzgewehr oder in guten Zeiten sogar mit einer Spielzeugflinte oder Pistole mit Zündplättchen, Cowboyhut, selbstgebauten Bogen aus biegsamer Weide mit Nylonfaden und Holzstöckchen als Pfeile.

„Auf sie mit Gebrüll“ von DONOTS hatte schon damals für uns eine ganz eigene Dynamik und Bedeutung. Nach einem „Peng, Peng, du bist tot!“ oder an den Marterpfahl, respektive Baum binden und Höhle bauen, gab es natürlich auch immer wieder zu Nahkampf-Spielchen, ein Gemisch aus Sumo-Ringkampf und Herumtollen, was nicht selten mit Weinen und „Aufhören, ich blute!“-Rufe einherging. Älter Kinder haben dann immer diesen Spruch – vermutlich von ihren Eltern übernommen – rausgehauen, vermutlich auch, weil sie selbst noch nicht reif genug waren für Trösten und In-den-Arm-nehmen. Schließlich galt es, jemand zu sein. Der Ausgang dieses Spektakels war deswegen entscheidend, um zu sehen, wer welche Rolle im Team inne hatte. Da gab es den ultimativen Kämpfer, der sich für nichts zu schade war und für den grinsend im Dreck wälzend das Höchste der Gefühle war. Dann gab es den Durchtriebenen, der immer sich immer im Gebüsch versteckt hielt und wartet, bis jemand vorbei kam oder nur so tat, als hätte er jemanden gesehen und diesen dann„tot“geschossen, nur, um so wenig Energie wie notwendig zu verschwenden. Dann gab es noch den Beschwichtiger, der keine Streit und kein Blut sehen konnte, nur, um als Erster zum Kiosk zu radeln, um sich ein Himmy Jimmy-Eis zu kaufen. Psychologisch gesehen ging es bei diesem „Cowboy und Indianer“-Spiel und um das Raufen darum darum, „psychomotorischen Fertigkeiten auszubauen und hierbei wichtige Erfahrungen zu machen. Sie lernen spielerisch den Umgang mit Nähe und Distanz und können somit eigene Grenzen und die des Gegners entdecken“. Aha. Das Eis hat uns trotzdem geschmeckt oder wir haben – je nach Ausgangslage – einen Tag nicht mehr miteinander gesprochen. Eigentlich war ich ja kein echter Indianer. Und früher fragte ich mich, ob echte Indianer wirklich keinen Schmerz kannten. Es ging und geht ja ums Jammern. Wer viel jammert und dann noch anfängt, Tränen zu vergießen, ist eine „Heulsuse“, ein „Weichei“ und stellt sich einfach nur an.
Was ist denn nun aber mit den echten Indianern? Indianer kennen als „normale“ Menschen selbstverständlich Schmerz und wundern sich vermutlich zu Recht, weil sich ausgerechnet Menschen wie Karl May im sehr fernen Sachsen in Deutschland diesen Mumpitz ausgedacht haben. Der Spruch ist nirgendwo sonst auf der Welt bekannt.
Historiker gehen davon aus, dass der Spruch von den Indianern und dem Schmerz auf Karl Mays wie „Der Schatz im Silbersee“ zurückgeht, wo es heißt: „Ein Indianer wird von frühester Kindheit an in dem Ertragen körperlicher Schmerzen geübt. Er gelangt dadurch so weit, dass er die größten Qualen ertragen kann, ohne mit der Wimper zu zucken.
Bleibt festzuhalten, dass Indianer lediglich trainiert darin waren, Schmerz zu ertragen, und das fand in Deutschland mit seinen von protestantisch-calvinistischer Moral geprägten preußischen Tugenden natürlich Bewunderung. Denn zu diesen Tugenden zählten Härte (gegen sich mehr noch als gegen andere), Selbstverleugnung („Wer je auf Preußens Fahne schwört, hat nichts mehr, was ihm selbst gehört“; Walter Flex) und Tapferkeit ohne Wehleidigkeit („Lerne leiden ohne zu klagen“; Friedrich III.).
Das war uns früher natürlich nicht bewusst und auch egal. Kurz darauf hatte ich keinen Bock mehr auf „Cowboy und Indianer“-Spiele. Ich wollte lieber ein Pirat sein! Aber das ist eine andere Geschichte!