
„Ein Ort zum Leben, ein Ort zum Besitzen, ein Ort zum Schlafen, ein Ort, den man Zuhause nennt.“
Ein Zuhause – das klingt so selbstverständlich, dass wir selten darüber nachdenken, was damit eigentlich gemeint ist. Aber schnell zeigt sich: Ein Dach über dem Kopf allein reicht nicht. Ein Haus
aus Ziegeln und Beton kann leer, unsicher oder gar feindlich sein. Und umgekehrt kann ein Raum ohne feste Wände mehr Geborgenheit bieten als ein noch so perfekt eingerichtetes Apartment. Heimat
ist mehr als Architektur – sie ist ein Gefühl von Sicherheit, Anerkennung und Zugehörigkeit.
Obdachlosigkeit
Obdachlosigkeit gilt heute als eine der gravierendsten sozialen Pathologien der Gegenwart. Wer buchstäblich auf der Straße lebt, ist nicht nur Wind und Wetter ausgeliefert, sondern auch Hunger,
Gewalt und Ausbeutung. Diese Bedrohungen gefährden nicht nur die körperliche Unversehrtheit, sondern machen jedes Streben nach einem erfüllten, „blühenden“ Leben nahezu unmöglich1.
Doch Obdachlosigkeit bedeutet mehr als das Fehlen einer festen Unterkunft. Ein Haus ist noch lange kein Zuhause, nur weil es aus Ziegeln, Balken und Dach besteht. Entscheidend ist, ob es als Ort
von Zuflucht und Geborgenheit funktioniert. Fehlt diese Dimension, bleibt auch die stabilste Wohnung ein „Nicht-Zuhause“. Umgekehrt können symbolische Räume – religiöse Gemeinschaften, kulturelle
Praktiken oder eben Subkulturen – ein Gefühl von Heimat schaffen, auch ganz ohne physische Architektur2.
Heidegger hat in „Bauen Wohnen Denken“ darauf hingewiesen, dass Wohnen nicht einfach physisches Unterkommen bedeutet, sondern eine ontologische Grundbedingung: das „In-der-Welt-sein“ als
Beheimatung3. Heimatlosigkeit ist in diesem Sinne nicht weniger prekär, wenn sie „nur“ spirituell ist. Wer in der kulturellen Ordnung
keinen Platz findet, bleibt existenziell obdachlos.
Subkulturen als Ersatz-Heimat
Genau hier setzen Subkulturen an. Sie schaffen symbolische Räume der Zugehörigkeit, in denen Mitglieder – trotz materieller Unsicherheit oder gesellschaftlicher Marginalisierung – Schutz,
Anerkennung und ein Gefühl von „Heimat“ finden. Im bourdieuschen Sinn bilden sie soziale Felder, in denen symbolisches Kapital akkumuliert und Habitus geformt wird4.
Subkulturen wie Punk sind damit mehr als Musik oder Mode – sie sind kulturelle Gegen-Orte, die existenzielle Obdachlosigkeit zumindest teilweise kompensieren.
Punk als Zuhause
Gerade die Punkrock-Szene liefert dafür ein Paradebeispiel. Punk ist nicht bloß ein Soundtrack, sondern ein sozialer Raum, der für viele wie Heimat funktioniert. In bewusster Abgrenzung zur
Mehrheitsgesellschaft – die oft als feindlich, entfremdend oder oberflächlich erlebt wird – etabliert Punk einen Schutzraum. Dort stiften geteilte Werte, Codes und Rituale eine Form kollektiver
Geborgenheit.
Im bourdieuschen Vokabular ist Punk ein „Feld“, in dem symbolisches Kapital wie Kleidung, Stile oder Authentizität als Ressource sozialer Anerkennung wirkt. Aus Sicht der Cultural Studies lassen
sich diese Artefakte auch als „oppositionelle Codes“ lesen – Zeichen, die Widerstand gegen die hegemoniale Kultur ausdrücken5. Punk ist damit doppelt: Schutzraum nach innen und Waffe nach außen.
Heimat ist mehr als vier Wände
Ein physisches Haus garantiert nicht automatisch Glück – und Glück ist nicht ausgeschlossen, wenn das Haus fehlt. Heimat bedeutet immer auch ein verlässlicher Ort der Erholung und Regeneration.
Und dieser Ort kann ebenso spirituell wie materiell sein.
Heidegger formulierte: „Obdachlosigkeit ist das Schicksal der Welt.“6
Gemeint ist damit nicht die reine Wohnungsnot, sondern das spirituelle Unbehagen der Moderne: eine Welt, die nicht mehr als Zuflucht erscheint, sondern als feindlicher Raum. Institutionen und
Ordnungen wirken instabil, gefährlich oder unzugänglich.
In solchem Klima des Misstrauens sind wir verletzlich – „obdachlos“ im existenziellen Sinn. Denn ohne Vertrauen verlieren wir nicht nur den Anschluss an andere, sondern auch an uns selbst. Wie
Ralph Harper schreibt: „Zu Hause ist nicht nur der Ort, an dem man anerkannt wird, sondern auch der Ort, an dem man andere anerkennt.“7
Schon Sokrates hat betont, dass ein „geprüftes Leben“ nur durch Dialog mit anderen möglich sei. Dialog setzt Vertrauen voraus – fehlt es, bleibt nur Gezänk und Konfrontation. Als Sokrates in
Athen verurteilt wurde, war die Stadt für ihn kein „Zuhause“ mehr; deshalb akzeptierte er den Tod mit den Worten: „Das ungeprüfte Leben ist nicht lebenswert.8
Punk als Gegen-Ort
Auch heute ist die Gefahr real: Isolation, Misstrauen, aggressive Kommunikationsformen. Ohne Räume echter Anerkennung verlieren wir die Grundlage für ein „Zuhause“. Und genau hier gewinnen
Subkulturen Bedeutung.
Die Punkrock-Subkultur funktioniert wie eine heterotopia im foucaultschen Sinn: ein Gegen-Ort, der Schutz, Gemeinschaft und Identität bereitstellt, wo die Mehrheitsgesellschaft Misstrauen und
Entfremdung hinterlässt9.
Punk schafft eine symbolische Architektur – nicht aus Ziegeln, sondern aus geteilten Symbolen, Praktiken und Ritualen. Kleidung, Musik, Sprache und Codes wirken dabei doppelt: Sie stiften
Zugehörigkeit nach innen und markieren Subversion nach außen. Wer innerhalb der Szene Authentizität, Performanz oder musikalische Praxis verkörpert, sammelt symbolisches Kapital – und
Anerkennung. Zugleich wird Punk zur „semiotischen Guerilla“: Alltagsgegenstände und Symbole der Mehrheitskultur werden umgedeutet und als Instrumente des Widerstands genutzt10.
So wird Punk zu einer kulturellen Antwort auf spirituelle Heimatlosigkeit. Er schafft ein Zuhause für die, die im Mainstream keinen Platz finden – ein Zuhause aus Klang, Symbolen und Haltung.
Punk-Heimat im digitalen Raum
Die klassische Punk-Szene spielte sich lange auf der Straße, in besetzten Häusern, in verrauchten Kellern oder improvisierten Clubs ab. Diese Orte haben immer auch etwas von realer Zuflucht: Man
musst sie physisch aufsuchen, sich durch ihre Türen drängen, in den Schweiß und Lärm eintauchen. Das „Zuhause“ Punk ist greifbar, wenn auch oft flüchtig – ein Kellerkonzert kann genauso schnell
verschwinden wie der nächste Abriss eines besetzten Hauses.
Heute verschiebt sich dieses Zuhause teilweise in den digitalen Raum. Bands veröffentlichen ihre Songs direkt auf Bandcamp, spotify, kleine DIY-Labels organisieren sich über Instagram, und ganze
Szenen pflegen ihre Identität auf Discord-Servern oder in Facebook-Gruppen. Auch wenn die Straße fehlt: Das Gefühl, „unter seinesgleichen“ zu sein, entsteht weiterhin – nur eben über den
Bildschirm.
Das Internet macht Punk zugleich durchlässiger und brüchiger. Einerseits können sich Jugendliche in ländlichen Regionen heute genauso schnell in eine globale Szene einklinken wie
Großstadtbewohner*innen. Punk als ein Ort der Heimat wird dadurch weniger ortsgebunden, weniger elitär, mehr vernetzt. Wer früher vielleicht allein im Jugendzimmer mit einer Kassette von den
Ramones saß, kann heute sofort Anschluss finden – ob in einem Forum, einem Subreddit oder einem internationalen Kollektiv, das Konzerte streamt.
Andererseits birgt die Digitalisierung eine neue Fragilität. Online-Communities können ebenso schnell zerfallen wie entstehen, Algorithmen verzerren Sichtbarkeit, und Kommerzialisierung dringt
leichter ein. Wenn der Subkultur-Code einmal durch TikTok-Ästhetik gefiltert ist, verliert er für manche seine subversive Schärfe. In Bourdieus Sprache: Das symbolische Kapital der Szene kann
entwertet werden, wenn es massenhaft zirkuliert und plötzlich für Außenstehende konsumierbar wird.
Trotzdem gilt:
Auch im digitalen Raum bleibt Punk eine Form von „Zuhause“. Vielleicht ist es weniger ein Keller voller Verstärker und mehr ein Hashtag, ein Meme oder ein Discord-Channel – aber die Funktion bleibt dieselbe: Schutz vor Isolation, die Möglichkeit, sich selbst im Spiegel anderer zu erkennen, und das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein.

Punk als Ort im Kontext von Obdachlosigkeit
Obdachlosigkeit bedeutet mehr als das Fehlen eines Daches über dem Kopf. Es ist ein Zustand radikaler Unsicherheit – kein sicherer Schlafplatz, keine Tür, die man hinter sich schließen kann, kein
Raum, in dem man ungestört Mensch sein darf. Heidegger spricht von „Obdachlosigkeit“ als dem Schicksal der modernen Welt: nicht nur physisch, sondern existenziell.11 Wer kein Zuhause hat, verliert mehr als vier Wände – er verliert einen sozialen Ort, an dem er gesehen, anerkannt und geschützt ist.
Hier eröffnet sich, paradoxerweise, ein Zugang zu Punk. Denn Punk ist von Anfang an ein Zuhause für die Heimatlosen, eine Szene für die Ausgeschlossenen.12 Nicht selten sind Punks selbst ohne festen Wohnsitz oder bewegen sich an der Schwelle zur Obdachlosigkeit – couchsurfend, in besetzten Häusern, auf der Straße. Aber die
Szene funktioniert wie ein kollektives Wohnzimmer: Wer dazugehört, findet Essen, einen Schlafplatz, Solidarität.
Ein Blick nach Berlin zeigt, wie konkret das werden kann: In den 1980er- und 1990er-Jahren entstehen dort Hausbesetzungen wie die Rigaer Straße oder die Köpi, die schnell zu Symbolen einer
alternativen Lebensweise werden.13 Hier lebt man ohne Eigentumstitel, aber mit einem ausgeprägten Sinn für Gemeinschaft. Punkbands
proben in den Kellern, es gibt Umsonstküchen, Konzerte, politische Treffen. Die Häuser bieten nicht nur physischen Schutz, sondern auch sozialen Halt – ein „Zuhause“ im wörtlichen wie im
übertragenen Sinn.
Auch international taucht dieses Muster auf. In den USA etwa formieren sich in den 1990ern Street-Punk-Kollektive, die obdachlose Jugendliche aufnehmen, ihnen Schlafplätze auf Tour oder in
Kollektivhäusern bieten. In der Crust-Punk-Szene, etwa in Großbritannien, wird das Leben auf der Straße geradezu zum Stil erhoben: Zelte, besprühte Schlafsäcke, Hunde, Einkaufswagen voller
Habseligkeiten – und trotzdem (oder gerade deshalb) ein starkes Gefühl von Zugehörigkeit.14 Was für Außenstehende nach Chaos und
Elend aussieht, bedeutet innerhalb der Szene ein Stück Heimat, das jenseits von Mietverträgen und Immobilienpreisen existiert.
Heute verschärft sich diese Dynamik. Gentrifizierung treibt Mieten in den Großstädten auf Rekordhöhen, während gleichzeitig immer mehr Menschen aus der Mitte der Gesellschaft an den Rand gedrängt
werden. Zeltstädte unter Brücken, improvisierte Lager in Parks oder Bahnhöfen gehören mittlerweile zum Alltag urbaner Zentren – nicht nur in Los Angeles oder San Francisco, sondern auch in
Berlin, Hamburg oder Dublin. Punk reagiert darauf mit derselben Energie wie vor Jahrzehnten: durch den Versuch, eigene Räume zu schaffen, seien es Squats, autonome Zentren oder virtuelle
Communities.
Im bourdieuschen Sinn ist Punk ein sozialer Habitus15, der Obdachlosigkeit nicht nur als Mangel begreift, sondern als Ausgangspunkt
neuer Formen des Zusammenlebens. Wo die Mehrheitsgesellschaft die Obdachlosen unsichtbar macht, entsteht hier eine Gegenöffentlichkeit, die neue Werte schafft: DIY statt Konsum, geteilte
Ressourcen statt Privateigentum, Kollektiv statt Isolation.
Die ästhetischen Marker der Szene – zerrissene Kleidung, Sicherheitsnadeln, Patches – sind in diesem Kontext mehr als nur Style. Sie sind Zeichen der Aneignung, wie Dick Hebdige
betont16: Symbole, die aus der Welt des Mangels kommen und in Symbole der Zugehörigkeit verwandelt werden. Das, was für Außenstehende
„kaputt“ wirkt, ist innerhalb der Szene ein Ausweis von Authentizität. Hier wird das, was sonst als Makel gilt, in Wert verwandelt.
Und auch im Digitalen schafft Punk neue Heimaten. Online-Communities, Social Media, Bandcamp oder Discord funktionieren wie virtuelle Squats: Orte, die man jederzeit betreten kann, ohne Eintritt,
ohne Türsteher*innen, ohne Miete. Für viele, die physisch keinen festen Ort haben, kann dieses digitale Zuhause ein Stück Sicherheit geben – ein Netzwerk, das stützt, auch wenn das Bett fehlt.
Fazit
Punk ist mehr als Musik, mehr als Style, mehr als jugendlicher Trotz. Punk ist eine Antwort auf das existenzielle Gefühl der Obdachlosigkeit – materiell wie symbolisch. Er bietet eine Heimat, die
nicht aus Stein gebaut ist, sondern aus Solidarität, Symbolen und Lautstärke. Ein Zuhause, das nicht käuflich ist und das nicht auf Eigentum basiert, sondern auf Gemeinschaft.
Gerade in einer Zeit, in der Wohnraum zum Luxusgut wird und immer mehr Menschen buchstäblich ohne Dach dastehen, erinnert uns Punk daran, dass Heimat kein Besitz sein muss, sondern Praxis: das
Teilen, das gemeinsame Kämpfen, das laute „Nein“ zur Kälte der Straße und zur Gleichgültigkeit der Gesellschaft. Punk schafft Orte – flüchtig, improvisiert, manchmal unbequem, aber echt. Und
vielleicht sind es genau diese Orte, die am meisten nach Zuhause klingen.
Fußnoten
1. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch I. ↩
2. Vgl. Peter Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1969. ↩
3. Martin Heidegger, Bauen Wohnen Denken, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1951. ↩
4. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Frankfurt a.M. 1982. ↩
5. Stuart Hall u. a., Resistance through Rituals, London 1976. ↩
6. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1953. ↩
7. Ralph Harper, The Journey Home, Baltimore 1966. ↩
8. Platon, Apologie des Sokrates, ca. 399 v. Chr. ↩
9. Michel Foucault, Andere Räume, Vortrag 1967. ↩
10. Dick Hebdige, Subculture: The Meaning of Style, London 1979 ↩
11. Martin Heidegger: Holzwege, Frankfurt am Main 1950. ↩
12. George McKay: Senseless Acts of Beauty: Cultures of Resistance since the Sixties, London 1996. ↩
13. Florian Urban: Berlin: From the Architecture of Division to a Unified City, London 2009. ↩
14. Ian Glasper: The Day the Country Died: A History of Anarcho Punk 1980–1984, London 2006. ↩
15. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1982. ↩
16. Dick Hebdige: Subculture: The Meaning of Style, London 1979. ↩