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Oi! of the Tiger

Oi! of the Tiger
Oi! of the Tiger

OI! OF THE TIGER ist eine R.A.S.H.-Combo aus Hannover. Red and Anarchist Skinheads (RASH) ist ein an der Straße orientiertes Netzwerk von linken und antifaschistischen Skinheadgruppen und ihren AnhängerInnen, welches rote und anarchistische Punks, Mods, Hardcorekids, Rude boys/Rude girls und Hooligans miteinbezieht. RASH ist eine antiautoritäre Organisation, die für alle Skinheads mit radikal linken Ansichten offen ist, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung.

"Wir organisieren den Kampf gegen unseren gemeinsamen Feind: den Staat, den Kapitalismus und seine faschistischen Knechte. Wir sind gegen alle Formen von Unterdrückung und Rassismus und versuchen den Staat durch Klassenkampf und durch den Kampf an unseren Arbeitsplätzen, auf den Straßen oder/und Freundeskreisen abzuschaffen. Der einzige Krieg, der es für uns wert ist geführt zu werden, ist der Klassenkampf." (RASH Berlin)

OI! OF THE TIGER bringen mit ihrer Musik die Politik zurück in die Skinheadsubkultur, die in großen Teilen verschont werden will von politischen "Vereinnahmungen" und sich mit Worten in Foren und in Musiktexten gegen als eine von "Außen aufgezwungene" antirassistische Attitüde zur Wehr setzt, weil ein klares Abgrenzen gegen Rechts ihrer Meinung nach die Neutralität der Skinheads aufgibt. So lässt sich in der Oi!-Szene eine auffallend große Distanz zu politischen Ideologien, Strömungen und Parteien feststellen. Manche Oi!-Bands trafen in ihren Songs klare Aussagen zur Arbeitslosigkeit/Arbeitsmarktpolitik, in denen sie auf Probleme hinwiesen und sich somit natürlich eindeutig politisch betätigten, ohne sich dabei jedoch in eine politische Ecke drängen zu lassen: „National Employer’s Blacklist“ von The Business (1981) klagt die Praxis einiger Arbeitgeber an, Namen vehementer Vertreter von Arbeitnehmerrechten in einer Liste zu führen und somit deren Einstellung zu verhindern. In „Jobs Not Jails“ von The Gonads (1980) heißt es: „What we want’s the right to work/Give us jobs not jails/Don’t throw us on the scrapheap because your system fails.“
Ein weiteres interessantes Beispiel stellt die Londoner Band Combat 84 dar. Wie in einer im britischen Fernsehen gezeigten Dokumentation über die Band klar wurde, waren Sänger (gemäßigt rechts) und Schlagzeuger (unpolitisch bis gemäßigt links) nur selten einer politischen Meinung. In ihren Liedern stellten sie demzufolge die politischen Standpunkte des Sängers Chubby Chris dar: In „Rapist“ spricht er sich für Todesstrafe für Sexualstraftäter aus („Bring back capital punishment“) und in „The Right to Choose“ für die Stationierung von Cruise-Missile-Raketen in Europa („The right to choose - we want the cruise!“).

Es gibt das „Oi ain't red"-Label, auf dem Musik des extrem rechten Rock Against Communism (RAC) serviert wird. Hier zeigt sich eine eindeutig rechte Ideologie und Gesinnung und eine Szene, die sich in ihrer Außendarstellung um die strikte Vermeidung von politischen Aussagen bemüht.
Als kleinster gemeinsamer Nenner genügt den AkteurInnen die Begeisterung für Oi-Musik und Spirituosen, sowie ein diffuser Begriff von Abgrenzung und Ablehnung nicht nur gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch einer antifaschistischen bzw. als »politisch korrekt« empfundenen Kultur und Politik. In diesem Denkmuster zeigt sich das krude Verständnis eines "gemeinsamen Kultes": Über rechte Tendenzen wird geflissentlich hinweg gesehen, bei berechtigter Kritik von antifaschistischer Seite läuten die Alarmglocken und das alte Hirngespinst vom »Linksfaschismus« wird bemüht, statt sich mit den Argumenten auseinanderzusetzen.
OI! OF THE TIGER setzen ihrerseits deutliche Zeichen für eine antifaschistische, revolutionär eingestellte Arbeiterklasse und für Sänger Jens ist es klar, "sich auch und gerade innerhalb dieser Zusammenhänge politisch zu artikulieren und zu positionieren." Mit dieser Einstellun ggrnzt sich die Band auch bewusst gegen die sogenannte Grauzone ab, also "Milieus in (Musik-)Kulturen, die sich apolitisch, oft auch ›gegen rechts‹ gerichtet geben, jedoch mit (extremen) Rechten strukturell, sozial und inhaltlich verwoben sind"(1).

«Die Vision, die ich habe, lässt sich am besten mit der „Umwerfung aller Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ beschreiben.»

In Deutschland verteilt sind vereinzelte Gruppen anarchistischer und kommunistischer Skinheads aktiv. Auch in Hannover existiert eine Gruppe linkspolitischer Skinheads, „die sich unter dem Namen Red & Anarchist Skinheads Sektion Hannover als Teil eines international agierenden Netzwerk linksradikaler Skinhead“ versteht.
Auf welcher Grundlage basiert dein politisches Selbstverständnis?
    Die Grundlage ist eine anarcho- bzw. libertäre kommunistische Sichtweise. Zum Selbstverständnis gehört auch ein relativ strikter Materialismus - gebrannte Kinder scheuen das Feuer. Dazu gleich mehr.
Doch gehen wir einfach historisch vor und fangen von vorne an. Am Anfang war das Wort. Zwar Worte, die mensch damals noch nicht verstehen konnte. Aber es musste etwas dran sein, weil sie voll Inbrunst rausgeschrien wurden und nicht einfach aus dem Radio dudelten. Ich hatte halt Punk, Hardcore und Metal für mich entdeckt.
Darüber kam ich dann auch zur alternativen linksradikalen Szene in Kontakt. Aber alle, die das hier lesen, werden wohl ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
Wie es sich gehört, waren die Einstellung und Erwartungen in der Zeit recht konfus. Irgendwas mit Anarchie und Freiheit. Meine erste Erfahrung mit Theorie kam, als ich in der Schulbibliothek Kropotkins „Worte eines Rebellen“ gefunden hatte. Seitdem bin ich durch viele theoretischen Schulen des mehr oder weniger linken Spektrums mäandert, von kollektivistischen über individual-anarchistische und wieder zurück. Dabei wurde auch viele Irrwege eingeschlagen. Was mich zum Materialismus zurück bringt.
Einer dieser Irrwege hatte mich über den frühen Freudo-Marxismus von Wilhelm Reich(2)dann in die esoterisch-verschwörungstheoretische Ecke gebracht. Aber ich bin froh, diesen Weg auch einmal eingeschlagen zu haben, so kann ich jetzt wenigstens voller Überzeugung sagen, was für eine Scheiße das alles ist.
Nicht unterschlagen werden darf auch die Zeit, in der meine erste politische Findungsphase gefallen ist. Während und kurz nach der Wiedervereinigung mit all ihren hässlichen Folgen. Hurra-Patriotismus samt Erstarken der neonazistischen Szene, rassistische Brandanschläge unter Jubel der Bevölkerung und Verschärfung der Asylgesetzgebung. Eine sehr prägende Zeit für eine antifaschistische Gesinnung.

Im gleichnamigen Song „Red Flag“ geht es um vereinfachte Aspekte, die sich ableiten vom Symbol der revolutionär-sozialistischen Arbeiterbewegung. Sind die Ideale von Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität heute nichts mehr wert?
    Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität als Ideale sind halt nur Ideale. Es gilt sie mit Inhalt zu füllen und für sie zu kämpfen.
Gesamtgesellschaftlich ist jedoch gerade wieder eine Entwicklung im Gange, die mich persönlich recht pessimistisch stimmt. Das heißt allerdings nicht, dass sich ein solcher Kampf nicht lohnt und nicht auch wieder bessere Zeiten anbrechen können.

Es gibt innerhalb vieler Subkulturen und politischen Fraktionen viele Vorbehalte gegenüber Skinheads. Skinhead-Kultur und „Oi!“-Musik sind nicht per se mit Neonazismus gleichzusetzen, oft sollen und werden politische Inhalte aus der „Szene“ ferngehalten werden. Warum ist es dir/euch als Band wichtig, sich gerade in der Skinheadsubkultur politisch zu positionieren?
    Da wir selber in der Punk- und Skinheadszene aufgewachsen sind und uns darin den größten Teil unseres Lebens schon bewegen, ist es für uns klar, sich auch und gerade innerhalb dieser Zusammenhänge politisch zu artikulieren und zu positionieren. Politisches Engagement sollte sich immer in den eigenen Lebenszusammenhängen widerspiegeln. Sei es der Betrieb, in dem mensch arbeitet oder irgendeine Szene, der mensch sich zugehörig fühlt. Schließlich geht es bei linken politischen Kämpfen im Endeffekt um einen Kampf für ein besseres Leben. Also müssen diese Kämpfe in dem Leben, das mensch selber führt, ausgefochten werden.
Eine „Entpolitisierung“, wie sie von etlichen Personen in der Skinhead-Kultur gefordert wird, sehen wir sehr kritisch. Häufig geht dabei nur darum, sich nicht dem eigenen Verhalten auseinander setzen und eventuell Konsequenzen daraus ziehen zu müssen. Selbst wenn es nur aus Desinteresse an als politisch angesehene Themen geschieht, ist dies eigentlich schon ein Widerspruch in sich. Eine „unpolitische“ Haltung ist nichts weiter als eine Affirmation der bestehenden Verhältnisse und somit schon wieder ein politischer Akt.

Viel zu oft werden linke politische Traditionen als engstirnige, zurückgebliebene und chauvinistische Bewegungen kritisiert. Spiegelt das auch die OI- und Skinheadszene wider? Wie widersprichst du dieses Bild?
    Wenn Traditionen nur um der Tradition willen weitergeführt werden, kann ich eine solche Kritik nachvollziehen und teile sie auch. Alte Sachen einfach weitermachen, nur weil sie alt sind, war schon immer unvernünftig. Bedeutet es doch auch alte Fehler ständig zu wiederholen.
Dabei will ich jedoch in keiner Weise irgendeiner Art von Geschichtsvergessenheit das Wort reden. Insbesondere linke Traditionen sollten in ihrem historischen Kontext kritisch betrachtet und analysiert werden. Das dies immer wieder zu Enttäuschungen - im doppelten Wortsinne - führt, ist unausweichbar. Sogar notwendig. Nur so können regressive Tendenzen vermieden werden.
Eine Jugendkultur, genau wie ein Musikgenre, muss in einem gewissen Maße allerdings immer traditionsbewusst bis konservativ sein. Wenn eine Jugendkultur sich zu sehr weiterentwickelt, hört sie auf zu sein und wird eine Neue. Konkret auf die Skinheadbewegung bezogen, kann mensch dies auch nachvollziehen. Sehen wir uns nur die Hochphase von Ende der Sechziger bis in die Siebziger an: von Hard-Mods, über klassische Skinheads bis Suedeheads und Bootboys. Alles Begriffe, die heutzutage zu Recht mit Skinhead assoziiert und zu Unrecht synonym gesetzt werden. Beim Punk sind ähnliche Entwicklungen zu beobachten.
Interessant sind selbstverständlich, um auf die linken Traditionen zurückzukommen, die politischen Entwicklungen ab Ende der Achtziger, wo mit SHARP - Skinheads Against Racial Prejudice - wieder eine Bewegung entstanden ist, die sich explizit gegen die vorherrschende rassistische Haltung ausspricht und erfolgreich die Szene zurückerobert hat. Dass jedoch allein eine antirassistische Grundhaltung – vor allem eine die keine wirkliche Definition von Rassismus hat und sich all zu häufig positiv auf Patriotismus bezieht - kein Garant für nicht Scheiße sein ist, zeigte sich ebenfalls recht schnell. Unter den Eindrücken von homophoben Übergriffen durch SHARP-Skins entstand dann RASH - Red and Anarchist Skinheads - als Sammelbecken für Skinheads mit einem grundlegenden linken Selbstverständnis, die sich gegen jede Art von Unterdrückung engagieren wollen.
Selbstverständlich gab es bei diesen Entwicklungen sofort auch die Vorwürfe der ach so bösen Politisierung der Szene. Dazu, was davon zu halten ist, bin ich ja schon in der vorherigen Antwort drauf eingegangen.

OI! OF THE TIGER
OI! OF THE TIGER

Das Selbstverständnis des Wir-sind-die-Guten bricht sich an der Realität linker Zusammenhänge. Überdeckt werden solcherlei Widersprüche nicht zuletzt durch einen verhältnismäßig stabilen Gruppengeklüngel, einig im Prinzip „Integration durch Ausschluss“. Bloße Sympathie, Kleidungsstil oder Musikgeschmack ersetzen politisches Bewusstsein, während theoretische Auseinandersetzungen in diesem Zusammenhang oftmals nur noch eine Alibifunktion haben. Machst du dir diese Beschränktheit der eigenen Handlungsmöglichkeiten auch bewusst?
    Die Widersprüche in linken Zusammenhängen sind letztendlich die Widerspiegelung der Widersprüche der Gesellschaft. Die Zwänge einer auf warenförmigen Verhältnissen basierend Gesellschaft lassen sich schließlich auch nicht im eigenen „Szeneghetto“ umgehen. Diese Verhältnisse sind durch Bilder vermittelt. Dazu zählen auch Kleidungsstil und andere „Szenecodes“. Und die Totalität dieser Ansammlung von Bildern ist extrem wirkmächtig. Jeder Ausdruck von Rebellion wird über kurz oder lang einfach warenförmig integriert. Die Frage sollte daher nicht lauten, wie beschränkt die eigenen Handlungsmöglichkeiten sind, sondern ob es überhaupt noch Handlungsmöglichkeiten gibt, die zumindest auf Fluchtlinien über die derzeitigen Verhältnisse hinaus hinweisen. Mir erscheint es so. Da der Ausgangspunkt dafür innerhalb dieser Verhältnisse liegt, müssen solche Handlungsmöglichkeiten notwendigerweise in sich selbst widersprüchlich sein und sich an den Widersprüchen dieser Gesellschaft abarbeiten.

Wie lässt sich konkret eine Verbindung zwischen Jugendlichen, der Arbeiterklasse, der multikulturellen Skinheadszene und linken Ideen herstellen?
    Eine Verbindung würde ich im Begriff des Begehrens sehen. Wobei nicht der Begriff als Begriff wichtig ist, sondern sein konkreter Ausdruck in der Wirklichkeit. Wie oben schon erwähnt, ist für mich die Basis von linken Ideen der Wunsch nach einem besseren Leben bzw. einem Leben, das dem Begriff Leben erst gerecht wird.
Historisch gesehen haben sich politische und soziale Kämpfe nie aus Ideen heraus entzündet, sondern aus konkreten Bedürfnissen: das Bedürfnis nach Nahrung, einer bewohnbaren Unterkunft oder freie Zeit um sich von der Arbeit zu erholen. Häufig waren dies nichts weiter als Kämpfe ums Überleben. Wenn allerdings erst gekämpft, gegen die unmenschlichen Verhältnisse aufbegehrt und sich der eigenen bewusst Kraft wurde, wurden neue Begierden geweckt. Warum sich mit trockenes Brot zufrieden geben, wenn es auch Kuchen geben könnte? Warum in einem Wohnklo hausen, wenn wir gemeinsam Villen für alle bauen könnten?
So naiv sich das Begehren manchmal auch äußert, bildet es doch ein Kristallisationspunkt für weitere Kämpfe. Hier drin sehe ich auch die Verbindung zu Jugendlichen und zur Skinheadszene, eigentlich alle musikaffinen Szenen. Der - gerne naive und ebenfalls gerne falsche - Ausdruck des eigenen Begehrens.

Gerade zur Skinheadkultur gehört von Beginn an Gewalt dazu: Das proletarische Selbstbild intendiert auch den harten Mann. Bist du oft mit Ausprägungen von Gewalt konfrontiert und wie gehst du damit um?
    Persönlich bin ich zum Glück nicht so oft mit Gewalt konfrontiert. Es lässt sich jedoch nicht immer vermeiden. Gerade als politischer Mensch gibt es ja genug Auseinandersetzungen mit Nazis, der Polizei oder anderen Idiot*innen. Hierbei kann aktive Selbstverteidigung durchaus ein probates Mittel sein.

Wie lassen sich politische Grabenkämpfe, die aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen resultieren, in der Punk -und Skin-Szene überhaupt verbinden, ohne sie zu vereinnahmen oder gleichzumachen?
    Ich weiß nicht, wie ich darauf antworten soll, ohne allzu polemisch zu werden.
Ich will politische Grabenkämpfe überhaupt nicht verbinden. Der „unity um jeden Preis“ - Gedanke war mir persönlich schon immer ein Graus. Eine politische Szene lebt von Meinungsvielfalt, sonst würde sie verkümmern. Allerdings müssen auch Grenzen gezogen werden. Und wenn eine Person nur Scheiße redet und/oder sich scheiße verhält, sollte dies klar angesprochen und, wenn notwendig, die entsprechenden Konsequenzen gezogen werden. Hierbei sehe ich Scheiße übrigens als eine politische Kategorie, wie schon von Marx in „Die deutsche Ideologie. 1. Band. Kapitel 1. Feuerbach“ formuliert(3).

Eine spezifisch libertäre Kultur muss in der Lage sein, in kollektiver Form ökonomische Alternativen zu bieten und nicht nur Gesinnungsparolen von sich geben. Welche Alternativen nutzt ihr und welche Möglichkeiten bietet ihr an?
    Leider sehe ich jetzt nicht die Lage, in der libertäre Kultur wirklich weitreichende ökonomische Alternativen bietet. Ich sehe jedoch die vielen kleinen Versuche. Diese Versuche enden häufig in Enttäuschung. Das ist gut. Schon wieder was gelernt. Hier sind wir wieder bei potentiellen Handlungsmöglichkeiten, die Fluchtlinien aufzeigen. Ein solches Experimentieren ist wichtig und richtig.
Mensch sollte sich allerdings nicht der Täuschung hingeben, dass eine solche experimentelle Nische schon einen wirklichen Unterschied macht. Denn unter den gegenwärtigen Verhältnissen ist in jedem Moment des Wahren schon immer ein Moment des Falschen enthalten. Die harten ökonomischen Zwänge der Warengesellschaft schlagen immer wieder durch. Erst kommt das Fressen, dann der ganze Rest.
Hört sich jetzt teilweise sehr negativ und ablehnend an. Hält jedoch persönlich nicht davon ab, sich an solchen Alternativen zu beteiligen. Tausch- und Schenkwirtschaft sind im Bekannt*innen- und Freundeskreis gang und gäbe. Ebenso sind oder waren eigentlich alle Leute in der Band beim Aufbau oder Erhalt von alternativen kulturellen Freiräumen beteiligt, z.B. dem Stumpf in Hannover oder der Walke in Hameln.
Als Band, muss ich aber sagen, ist auch ganz schön, wenn wir ein wenig der Ausgaben wieder reinkriegen. Von der Arbeitskraft gar nicht reden. Wir müssen alle unsere Rechnungen zahlen und leben teilweise in prekären Verhältnissen. Und ich persönlich habe keine Lust mehr darauf, dafür (z.B. in Form von Benzinkohle) zahlen zu müssen, um irgendwo spielen zu können.
Es kommt ja auch darauf an, was du als ökonomische Alternative siehst. Ist die Alternative schon, dass etwas - das Konzert, die Vokü, der Alk im AZ - nicht so teuer ist wie in kommerziellen Läden?

Die Relevanz des Kulturellen, die im Anarchismus immer aus geprägter war als im politischen Marxismus, war nie Selbstzweck, sondern erst Sinn macht, wenn sie mit der ökonomischen Fragestellung gekoppelt wird. Warum bietet DIY-Punk heute keine Chance mehr, der globalen Ausbeutung zu entkommen?
    Huch, schon wieder eine Frage, wo ich erst mal so negativ bin. Hatte der DIY-Punk jemals diese Chance?
Ich bin mir nicht sicher, ob die Formel von Conflict „turning rebellion into money, turning money into rebellion“ wirklich so funktioniert.
Das DIY-Prinzip ist eines der wichtigsten Merkmale des Punk überhaupt. Aber es kann auch eine Selbstlimitierung sein. Immer wieder vor den gleichen Leuten in den gleichen Läden spielen. Preaching to the converted. So kann mensch sich auch ein „Szeneghetto“ erschaffen, in dem, wie du schon selber kritisch angemerkt hast, „Kleidungsstil oder Musikgeschmack politisches Bewusstsein [ersetzen]“.
Wobei die Agitation auch in kleinen Bereichen durchaus eine Rolle spielen kann. Bei meiner eigenen politischen Meinungsbildung war dies z.B. so. Die eine Band sagt dies, die andere Band sagt das. Verdammt, jetzt muss ich selber nachdenken.
Ebenfalls wichtig ist die Frage, ob Kultur, insbesondere Musik, explizit eine intentionale soziale, politische oder ökonomische Fragestellung aufwerfen muss, um eine darauf bezogene Wirkung zu entfalten. Dies ist auch die Frage nach dem Verhältnis von Inhalt und Form. Reicht nicht allein der stumpfe Beat einer Rock- oder Punkband (zähneknirschernd zähle ich Elektro auch noch auf), um das Begehren einer jugendlichen Person zu wecken und einen Vorgeschmack auf eine communistische Sozietät zu geben?
Oder der Bereich des Films. Ein Horrorfilm sagt häufig mehr über den Zustand einer Gesellschaft aus, als ein gut geschriebener, inhaltsreicher Autorenfilm. Meiner Meinung nach ist Romeros „Dawn of the Dead“ eine der besten Verfilmungen von Guy Debords „Die Gesellschaft des Spektakels“(4)und gleichzeitig eine gute Bestätigung seiner Thesen, wenn mensch die Rezeption betrachtet (siehe Satzanfang).
Um die Ausschweifungen zu beenden, zurück zu Ökonomie und DIY. Wenn es um den Inhalt geht, um Texte, um explizite Aussagen, die die Menschen erreichen sollen, spielt die Reichweite eine Rolle. Das ewige Dilemma. Will ich mehr als eine geringe Anzahl von Personen erreichen, muss eine Arbeitsteilung her. Das fängt schon beim Presswerk an. Da sind wir dann wieder in vorgegebenen ökonomischen Zwängen gefangen. Viele Leute leben davon und brauchen das Geld. Und Selbstausbeutung, auch unter dem Label DIY, kann nicht der Weg zu einer befreiten Gesellschaft sein.

Kultur, Subkultur oder auch eine ArbeiterInnenkultur kann dann gewinnen, wenn sie eine ökonomische Perspektive gewinnt. Welche Vision, Utopie oder Weitsicht hast du hinsichtlich einer anderen, besseren Gesellschaftsform. Und unter welchen Bedingungen kann diese funktionieren?
    Die Vision, die ich habe, lässt sich am besten mit der „Umwerfung aller Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ beschreiben. Wie dies genau aussehen wird, wird - hoffentlich - die Zeit zeigen. Dabei ist kein Endzustand, kein teleologisches Ziel gemeint. Sondern es wird ein Prozess, eine Bewegung sein. Seien wir doch mal ehrlich, ich will keinen Garten Eden. Kein Happy-Fluffy-Wunderland. Ich will mich auch streiten, an etwas reiben und auseinandersetzen können, sonst hätte ich niemals mit Punk angefangen.
Die Bedingungen dafür, werden die Bedingungen sein, die wir selber dafür schaffen müssen. Wir werden noch viele Fehler machen und Enttäuschungen erleben. Immer fragend vorwärts schreiten. Oder auch mal zurück, ... im Kreis, ... zur Seite ... eins, zwei, cha cha cha, ... Pogo, Pogo, Patz, Patz!
Ich kann doch auch nicht in die Zukunft schauen.

Anmerkungen:

(1) AIB #91: Schwerpunkt »Einblick in die Grauzone«. Für die Autoren bedeutet eine Etablierung und Akzeptanz von Grauzonen einen "Raumverlust für emanzipatorische Werte". Wer meint, unpolitisch zu sein, akzeptiert »gesellschaftliche Zustände (...) als gegeben, man strebt nicht nach Veränderung«. Nicht zufällig »werden veränderbare Verhältnisse wie Familie, Vaterland, Nationalstolz von ›unpolitischen‹ Grauzonen-Bands als ›ganz natürlich‹ empfunden und positiv besetzt«.
Auch interessant: UNDERDOG #37 - Schwerpunkt Grauzone:
https://www.underdog-fanzine.de/2013/12/28/underdog-37/
(2) http://www.rsb4.de/content/view/2718/81/
(3) http://www.mlwerke.de/me/me03/me03_017.htm#I_I
(4) http://theoriepraxislokal.org/books/GdS1.php