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LOTTA #72

LOTTA #72
LOTTA #72

LOTTA #72
68 DIN-A-4-Seiten; € 3,50.-
Lotta, Am Förderturm 27, 46049 Oberhausen
www.lotta-magazin.de
LOTTA arbeitet den Wehrhahn-Anschlag auf. Die als fremdenfeindliche eingestufte Tat führte für den als dringend Tatverdächtig ermittelten Ralf S. trotz lückenloser Indizienkette zu einem Freispruch. Ralf S. wurde zwölffacher Mordversuch aus Fremdenhass vorgeworfen.

Der schon im Sommer 2000 als Beschuldigter geführte Ralf S. verließ am 31. Juli 2018 das Gerichtsgebäude als von allen Anklagepunkten Entlasteter. Dass die Strafkammer in ihrer mündlichen Urteilsbegründung Ralf S. als Rassisten, Antisemiten und Gewaltmenschen kennzeichnete, änderte daran nichts.
Der als Neonazi bekannte Angeklagte Ralf S. war bereits unmittelbar nach dem Attentat ins Visier der Ermittler gerückt. Die Polizei konnte ihm die Tat aber nicht nachweisen.
Bei dem Anschlag vom 27. Juli 2000 wurden zehn Menschen zum Teil schwer verletzt - überwiegend jüdische EinwandererInnen. Die Opfer kamen vom Deutschunterricht an einer Sprachschule. Die Rohrbombe, die nachmittags am S-Bahnhof Wehrhahn explodierte, war mit dem Sprengstoff TNT gefüllt. Ein Metallsplitter drang in den Bauch einer schwangeren Frau ein und tötete ihr ungeborenes Baby. Die Frau schwebte in Lebensgefahr. Der Splitterhagel reichte 100 Meter weit.
Ein Hinweis eines Häftlings löste vor gut vier Jahren neue Ermittlungen zu dem Attentat vom Juli 2000 aus. Der Inhaftierte berichtete demnach im Juni 2014 von einem Mitinsassen, Ralf S., der sich mit dem Anschlag gebrüstet habe. Vor Gericht konnte der Zeuge Andreas L. sich nicht mehr daran erinnern, wann genau er nach der offenbarenden Begegnung mit Ralf S. die JustizbeamtInnen informiert hatte. Auch über die eigentliche Gesprächssituation mit S. machte er widersprüchliche Angaben. Der Ausgang des Strafprozesses zur Anklage gegen Ralf S. war demnach nicht grundsätzlich überraschend.
Rechtsanwalt Alexander Hoffmann macht im Interview deutlich, dass „ernsthafte Ermittlungen erst nach vielen Jahren (begannen), als eine erfolgreiche Aufklärung des Anschlages eigentlich kaum mehr möglich war“. Zugleich stellt er aber auch klar, dass „es (nicht) sein kann und darf, dass ein Angeklagter verurteilt wird, wenn ernsthafte Zweifel an seiner Schuld bestehen“. Dennoch wurde seiner Meinung nach „jede Chance vergeben, die Gründe, die dem angeblichen Versagen der Ermittlungsbehörden nach der Tat zu Grunde lagen, zu beleuchten“, darunter Fehler der Ermittlungsbehörden, institutionellen Rassismus, mögliche Verbindungen des Angeklagten in die Naziszene oder Aktivitäten des Verfassungsschutzes. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass Ralf S. noch vor den Ermittlern gewusst habe, dass es sich um einen rechtsradikalen Anschlag gehandelt habe. In seiner Wohnung sei außerdem eine Anleitung für einen Fernzünder gefunden worden, wofür er trotz aller Ausreden keine sinnvolle Erklärung habe liefern können. Zudem habe er nach der Tat Zeugen beeinflusst, bedrohen lassen und die Tatortarbeit der Ermittler stundenlang nervös beobachtet, was  weit über das Interesse eines unbeteiligten Passanten hinausgeht.

Gesamteindruck:

Extrem rechte Gewalt ist kein Einzelfall. Wenngleich es sowohl ideologisch, als auch personell Kontinuitäten innerhalb des bundesrepublikanischen Rechtsterrorismus gibt,  wird anhand des „NSU“ eine neue Qualität und Stärke der extremen Rechten deutlich. Mit seiner Aufdeckung zeigt sich, dass eine Gruppierung über Jahre hinweg unentdeckt und/oder mithilfe des Verfassungsschutzes in der Lage war, gezielte Morde zu planen und bundesweit durchzuführen. Die Betroffenen und Angehörige solcher rechtsterroristischen Anschläge fühlen sich von Behörden und Politik alleine gelassen. Dabei haben uns die langjährige Nichtaufklärung der NSU-Mordserie sowie die Ausblendung ihres rassistischen Hintergrunds drastisch vor Augen geführt, dass „Verfassungsschutz“ und Polizei im Bereich „Rechtsterrorrismus / Neonazismus“ versagt haben, und dass struktureller/institutioneller Rassismus für eine systematische Abschottung beiträgt, dass der Verfassungsschutz extrem rechte V-Leute regelrecht deckt und systematisch gegen polizeiliche und justizielle Ermittlungen abschirmt, selbst wenn Unbeteiligte schwer geschädigt wurden.