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CRASS - Punk, DIY und Anarchie

CRASS
CRASS

In Großbritannien und Europa erhob die zweite Punk-Generation ihre wütende Stimme. Es war die Geburtsstunde des Anarcho-Punk, geprägt von hochpolitisierten Gruppen wie Crass, Conflict und den Subhumans. Dem Ausverkauf der Vorgänger begegneten sie mit konsequenter Verweigerung gegenüber den Mechanismen des Musikgeschäfts, und die Subversion des Systems war ihnen weit mehr als nur schmissige Parole.

Der neue Punk-Untergrund nutzte die Musik als Sprachrohr des aktiven Widerstands, der sich in verschiedenster Form manifestierte, ob in Tierbefreiungen aus Versuchslaboren, antifaschistischen Aktionen oder militanten Protesten gegen die kapitalistischen Verwerfungen des Thatcherismus. Außerhalb der großen Labels und ihrer Punk-Protagonist*innen verknüpfte der ‚Anarcho-Punk‘ politisches Engagement und Authentizität. Im Zentrum dieser Szene stand die Band CRASS, die eine anarchische und pazifistische D.I.Y.-Ethik für eine alternative Lebensweise formulierte und die Punkmusik als Instrument zur Förderung der Ideologien der Anarcho-Punk-Bewegung verwendete.
Für viele bleibt ‚The Feeding of the Five Thousand‘ (1978) die bahnbrechende Anarcho-Punk-Platte. Die Debütveröffentlichung von Crass, die in dem von Gee Vaucher entworfenen, unverwechselbaren Cover gehüllt war, markierte eine Veränderung in der Entwicklung des Punk in England.
Die implizite (Pseudo)Politik von The Sex Pistols ‚Anarchy in the UK‘ wurde hier ernst genommen und umgesetzt; die Verpflichtung der Clash, sich mit der Welt um sich herum auseinanderzusetzen, fand einen Ausdruck, der über den Punkt der Skizzierung hinausging.

CRASS - The Feeding Of The 5000; Covergstaltung: Gee Vaucher
CRASS - The Feeding Of The 5000; Covergstaltung: Gee Vaucher

Gee Vaucher entwarf als Illustratorin und Collagekünstlerin in den 80er Jahren für das Anarcho-Punk-Kollektiv CRASS Plattencover, Stencils, Flyer. Ihre Arbeit hatte einen starken Einfluss auf die Protestkunst, genauso wie auf die Punk- und Anarcho-Ästhetik ihrer Zeit. Sie nutzte ihre surrealistische Collagenart und die Schablonentechnik auch für politische Botschaften, die sie in ihren Werken vermittelte und um einen gesellschaftlichen Wandel zu erreichen, denn sie legte in verstörenden Bildern das Übel der modernen Zivilgesellschaft offen und kritisierte Konsumwahn, Kapitalismus, Dekadenz, Herrschaft, Autoritäten.1
Gee Vaucher hat einen einzigartigen Kunststil: die Verwendung von Schwarz-Weiß-Collagen, die Verwendung eines kleinen Pinsels sowie auffällige politische Kritiken zu Religion, Krieg, Politik und Konsumkultur während der Herrschaft von Reagan und Thatcher.
Crass' lyrischer Inhalt und das damit eng verknüpfte Artwork wirkten als Intervention, um die unermüdlichen globalen Bemühungen aufzudecken, öffentliche Institutionen abzubauen und zu privatisieren, nationalistische Bestrebungen und gewerkschaftsfeindliche Gefühle aufzubauen, Kriege in Mittelamerika zu beginnen und an konsumorientierten und konservativen traditionellen Werten festzuhalten. Mit anderen Worten, Crass hat es ermöglicht, kritischer über die Welt nachzudenken, und sie haben geholfen, wichtige Verknüpfungen herzustellen, um ein tieferes Weltbild zu konstruieren. Das Cover zeigt die gegensätzlichen Welten von Krieg, Armut und der Desillusionierung und Fassade der Mittelklasse und der Vorstadtgesellschaft. Ein Teil der Faszination besteht darin, wie Vaucher die Überschneidungen und Widersprüche dieser beiden Welten illustriert. Während eine konservativ aussehende Mutter auf ihr kleines Kind herablächelt und ein „A, B, C“-Buch liest, werden Polizisten in Schutzkleidung, ein ausgehungertes Kind und eine andere Frau, die als verkohlte Modepuppe dargestellt werden. Auf der linken Seite beschützt die Polizei das saubere Vorstadtgebiet. Die Collage repräsentiert zwei verschiedene Welten, beginnen sich jedoch zu überlappen. Indem wir die Logik des Krieges und der Konsumkultur der Mittelklasse aufrütteln, sehen wir sie als betrügerisch und als Illusion an. Außerdem ist es bezeichnend, dass mensch auch nach mehr als 40 Jahren seit dem Erscheinen von ‚The Feeding of the 5000‘ noch immer den enormen Einfluss auf die zeitgenössische Punk-Kultur sieht. Die Schablonenschrift und die politisch aufgeladene Collagenkunst finden sich heute auf Flyern und Albumcover wider. Darüber hinaus waren die verzerrten Power-Akkorde und Gesangs-/Singalong-Refrains konsequente Mittel, um die Bedrohung dominanter Kultur und Macht herauszufordern.
Als ‚Feeding...‘ im Frühjahr 1979 erschien, wurde die Platte mit dem Song ‚The sound of free speech‘ eröffnet – mit einigen Minuten totaler Stille. Das Presswerk hatte sich geweigert, den ursprünglich an erster Stelle vorgesehenen Song ‚Asylum‘ zu pressen, da er blasphemisch sei. In dem Text heißt es unter anderem: „Jesus calls me sister. There are no words for my contempt. Every woman is a cross in his filthy theology...Jesus died for his own sins not mine.“ Crass entschieden sich daraufhin, die Platte ohne ‚Reality Asylum‘, das später als Single erschien, zu veröffentlichen.
Kurz darauf gründeten CRASS das eigene Label Crass Records, um die redaktionelle Kontrolle über ihre Arbeit zurückzugewinnen und den Song auf einer 7“ zu veröffentlichen.
Dies war bei weitem nicht das einzige Mal, dass die Band Kontroversen auslöste.

Thatchergate

Der berüchtigtste Vorfall ereignete sich, als sie die Aufzeichnung eines angeblichen Gesprächs zwischen Margaret Thatcher und Ronald Reagan als Falschmeldung/Propaganda veröffentlichten. Thatchergate war der umgangssprachliche Begriff einer Falschmeldung, die CRASS-Bassist Peter Wight nach dem Falklandkrieg von 1982als Audio-Collage in den Umlauf brachte. Unter Verwendung von Auszügen aus Reden von Margaret Thatcher und Ronald Reagan wurde eine Aufnahme zusammengefügt, die angeblich ein Telefongespräch zwischen den beiden Politiker*innen aufzeigte. Im Verlauf des Gesprächs bringt Reagan seine Absicht zum Ausdruck, Europa als Schlachtfeld zu nutzen, um Sowjetunion die Entschlossenheit der USA in einem Atomkonflikt zu demonstrieren. Als die Aufnahme 1983 zum ersten Mal öffentlich gemacht wurde, wurde sie vom US-Außenministerium zunächst als Propaganda des sowjetischen KGB angesehen. Ausschnitte der Aufnahme sind im Crass-Track ‚Powerless with a Guitar‘ auf der Compilation-LP Devastate to Liberate (Yangki - 1985 - Yangki 1) zu hören und können hier nachgelesen werden. 2



Mit ihren politischen Aktionen, ihrer Musik und ihrer Kunst versuchten sie, die politischen Strukturen als von Natur aus korrupt zu entlarven. Gleichzeitig kämpften sie darum, kollektivere und partizipativere Lebensweisen zu schaffen. Das haben sie mit dem Dial House erreicht. Das Dial House ist ein Bauernhaus im Südwesten von Essex, England. Das Haus befindet sich in der ländlichen Gegend von Epping Forest im Ongar Great Park, einer Fläche von 5 mal 3 Kilometern. Dial House ist eine Kommune und die Heimat der Anarcho-Punk-Band Crass-Mitglieder Penny Rimbaud and Gee Vaucher. Seit 1967 ist Dial House ein offener, anarchistisch-pazifistischer Ort und die Basis für eine Reihe kultureller, künstlerischer und politischer Projekte, die von Avantgarde-Jazz-Events bis zur Gründung der Free Festival Movement reichen. Gee und Penny Rimbaud mieteten den Ort 1967 für einen kleinen Betrag, nachdem sie sich an der Kunsthochschule getroffen hatten. Nach einer langen gerichtlichen Auseinandersetzung mit den Eigentümern kauften Vaucher und Rimbaud Dial House in den 90er Jahren inkognito bei einer Auktion.

Warum gibt es also bestimmte Verbindungen zwischen Punk und Anarchismus?

Als Grundkonsens ist eine anti-autoritäre Haltung im Punk und die Ablehnung von HERRschaft und Hierarchien zu beobachten. Mit anderen Worten, es ist ein subversiver Akt, der die Welt durch radikale Texte, Kunst, Musik, politische Projekte und andere Mittel viel transparenter macht. Diese Praktiken lassen sich auch in anarchistischen Bewegungen beobachten. Um diese wichtigen Zusammenhänge hervorzuheben, erklärt Clark im Buch 'The Raw and the Rotten: Punk Cuisine (2004): „Punk zu sein, ist eine Möglichkeit, Privilegien zu kritisieren und soziale Hierarchien herauszufordern. Zeitgenössische Punks sind im Allgemeinen vom Anarchismus inspiriert, den sie als eine Lebensweise zugunsten von Egalitarismus und Umweltschutz sowie gegen Sexismus, Rassismus und Unternehmensdominanz verstehen. “(S. 19)
Um auf einige dieser gemeinsamen Ziele hinzuarbeiten, versuchen Aktivist*innen, auf anarchistische Weise lebensnahe Verbindungen zwischen Theorie und Praxis herzustellen, insbesondere durch die Errichtung politischer Projekte wie Hausbesetzungen oder selbstverwaltete Frei-Räume. Es sind in vielen Teilen der Welt solche Orte entstanden, dazu gehören auch lebenspraktische Formen wie Info-Läden, Buchmessen, das Teilen von Lebensmitteln, Weitergeben von Fertigkeiten und Bildungspraktiken sowie direkte Aktionen gegen den Staat, Ausbeutung und den Kapitalismus. In der Punk-Kultur und im Anarchismus verwoben sind auch die unbestimmten Facetten der Gegenöffentlichkeit. Zum Beispiel betonte der Anarchist Rudolf Rocker (1938) aus dem frühen 20. Jahrhundert, dass der Anarchismus „kein festes, in sich geschlossenes soziales System ist“.
Mit anderen Worten, der Anarchismus fördert ständige Bewegung, Reflexion und Selbstkritik sowie eine Vielzahl unterschiedlicher theoretischer Rahmenbedingungen und Praktiken. Diese Formen einer dynamischeren und zielgerichteteren Herangehensweise zur Transformation unserer Gemeinschaften im Hier und Jetzt sind der Grund, warum Punk und Anarchismus Gemeinsamkeiten oder eine Affinität zwischen ihren politischen und kulturellen Praktiken aufweist.
Crass hatte Recht, als sie auf ihrem Debütalbum wiederholt „Punk is dead“ skandierten. Punk musste erst sterben, um sich danach neu zu orientieren und weiterzuentwickeln. Darüber hinaus förderte Crass eine internationale DIY-Bewegung innerhalb verschiedener Punkszenen. In den frühen 1980er Jahren hatten Crass (CRASS Records, Corpus Christi Records,) Minor Threat (DISCHORD), Dead Kennedys (Alternative Tentacles) und andere Punk-Bands ihre eigenen Plattenlabels, auf denen sie ihre eigenen und die anderer Werke veröffentlichten und vertrieben. Diese Bands arbeiteten auch mit Künstler*innen zusammen, um mit verschiedenen Methoden in die kulturellen und politischen Praktiken der dominierenden Gesellschaft einzugreifen. Ihr Kunstwerk implizierte abweichende Botschaften durch Cover, Beilagen und Konzertflyer. Diese kollektiven Bemühungen, bei denen Punk-Musik und bildende Kunst zusammenkamen und sich gegenseitig beeinflussten/inspirierten. Radikale Authentizität war und ist die notwendige Basis für die Freisetzung kreativer Energien. Das galt für Punk, Kunst und Musik, gleichermaßen. 3


Fußnoten: