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Initiative in Gedenken an Oury Jalloh

© heba  https://umbruch-bildarchiv.org/oury-jalloh-gedenken-2020/
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Täglich werden in Deutschland drei bis vier rechts, rassistisch oder antisemitisch motivierte Gewalttaten verübt. Allzu oft werden rechte Gewalt und ihre Folgen ignoriert, verharmlost und verschwiegen. Der „Fall“ Oury Jalloh belegt eindeutig die Mechanismen des institutionellen Rassismus in polizeilicher Praxis und steht explizit für ein von vielen Beispielen wie hierzulande institutioneller Rassismus1 aktiv betrieben wird.

Für die von Rassismus betroffenen Opfer, Angehörige und Freund*innen ist es ein Ohnmachtsgefühl und eine Re-Traumatisierung, wenn Polizei, Staat und Justiz alles daransetzen, Vorgänge zu verharmlosen und zu vertuschen.
Wieso aber gelingt es nicht, eine diskriminierende Praxis wie das polizeiliche Racial Profiling zu verhindern bzw. konsequent durch interne und strafrechtliche Ermittlungen zu verfolgen? Die Gründe für eine rassistische Polizeipraxis mögen vielschichtig sein. Sie lassen sich aber besser verstehen, wenn mensch sie als Mechanismus des institutionellen Rassismus analysiert.
In ihren Effekten wirken sich die Mechanismen des institutionellen Rassismus bei der Polizei katastrophal für die Betroffenen aus. In ihrer Folge orientieren sie nicht nur rassistisch diskriminierende Kontrollen, sondern können auch den Ausgangspunkt weitreichender polizeilicher Gewalthandlungen bilden. Beispiele hierfür sind der Tod von Oury Jalloh, der am 7. Januar 2005 in einer Polizeizelle in Dessau verbrannte, von Laya Condé, der am gleichen Tag in Folge eines Brechmitteleinsatzes in Polizeigewahrsam in Bremen verstarb, von Slieman Hamade, der am 28. Februar 2010 bei einem Routineeinsatz durch Pfefferspray in Berlin ums Leben kam, oder von Rooble Warsame, der am 26. Februar 2019 der von einem Ankerzentrum in Schweinfurt auf die Polizeiwache geführt wird. Er widersetzte sich seiner Verhaftung nicht. Wenige Stunden später wurde er tot in seiner Zelle aufgefunden. Die Polizei spricht von Suizid.
Die Aufklärung der Umstände ihres Todes wären beinahe uneingefordert geblieben, hätte es nicht die Netzwerke von Freund*innen, Verwandten und/oder Aktivist*innen gegeben, die einen öffentlichen Druck formierten und die mediale und politische Präsenz erkämpften. Bei der medialen und politischen Aufbereitung dieser und anderer Tötungen wird dabei häufig von Einzelfällen gesprochen, von „traurigen“ Ausnahmen durch individuelle Fehlleistungen einzelner Polizeibeamt*innen. Die Legende der bedauerlichen Einzelfälle individualisiert diese spezifische Form polizeilicher Gewalt, die vielmehr eine konkrete Folge institutionellen Rassismus in der Polizei selbst darstellt.
Wir unterhielten uns mit Nadine Saeed von der „Initiative in Gedenken an Oury Jalloh“, die seit nunmehr 15 Jahren eigenmächtig versucht, den Fall aufzuklären.

«Ourys Fall ist einer von vielen und exemplarisch für alle Menschen, die durch Polizeigewalt umgekommen sind.»

Nadine, eines vorweg: Warum bist du in der „Initiative in Gedenken an Oury Jalloh“ aktiv beteiligt?
    Weil ich es unerträglich finde, in einer Gesellschaft zu leben, wo Polizeigewalt ignoriert und toleriert wird. Es ist für mich sinnvoll aktiv zu sein, da es hier nicht nur um Oury Jalloh geht, sondern um die Aufdeckung eines mordenden Systems.

Warst du auch bereits selbst von Diskriminierung betroffen?
    Ja, auf jeden Fall, ich bin eine Frau und deswegen permanent von Diskriminierung betroffen.

Am 07.01.2005 verbrennt Oury Jalloh – an Händen und Füßen gefesselt – in der Zelle 5 im Polizeirevier Dessau. Die Staatsanwaltschaft ging damals und in späteren Gerichtsverfahren davon aus, dass sich Oury – trotz Hand- und Fußfesseln – auf einer schwer entflammbaren Matratze mit einem Feuerzeug selbst angezündet habe und beharrt auf eine „Selbstentzündungsthese“.
Dringendste und nächstliegendste Frage ist doch: Wie kann ein Mann, dessen Hände fixiert sind, eine Matratze aufschlitzen, ein Feuerzeug hervorziehen und ein Feuer legen?
    Als Erstes: wohlwissend, dass es nicht so gewesen sein kann, sie es aber seit Anfang an bis heute behaupten – obwohl alle Fakten darlegen, das dies gar nicht möglich sein kann – dass ein Mensch, der an Händen und Füßen – vierpunkt-fixiert – gefesselt auf einer feuerfesten Matratze bis zur Unkenntlichkeit komplett verbrannt wurde, in einer Zelle – einem geschlossenen Raum in Polizeiobhut – in dem nichts andres Entflammbares vorhanden war, sich selbst anzündet. Oury hatte keinen Bewegungsfreiraum (die Matratze ragte über das Podest), er hatte kein Feuerzeug an sich (wie soll dieses bei der gründlichen und rassistischen Untersuchung Ourys vor in Gewahrsamnahme übersehen worden sein?), zudem gibt es keine Spuren in der Zelle, weder weist es die DNA von Oury auf dem nachträglich auf die Asservatenliste hinzugefügte Feuerzeug auf – dafür sind jedoch Hundehaare sowie eine DNA festgestellt worden, die eindeutig einer europäischen DNA zugeordnet werden kann, laut Staatsanwaltschaft soll diese von dem Laboranten des LKAs stammen, der das Feuerzeug ohne Handschuhe untersucht haben soll. Die Selbstanzündungsthese steht als bloße Behauptung im Raum und das Feuerzeug wurde bis heute seitens der Staatsanwaltschaft nicht geprüft. Die Untersuchung des Feuerzeugs haben wir selbst als Initiative unabhängig in Auftrag gegeben. Von Anfang an stand für die Ermittler fest, dass Oury sich selbst angezündet hat. So hat der LKA-Beamte, welcher für die Untersuchung des Tatortes zuständig ist, noch vor Betreten des Dessauer Polizeireviers am 7.1.2005 gesagt: „Wir begeben uns jetzt in den Gewahrsahmstrakt, indem sich ein Schwarzafrikaner selbst angezündet hat.“ Bevor er Zelle Nr. 5 betrat, behauptete er dies ein zweites Mal. Es wurden seitens der Staatsanwaltschaft nur Untersuchungsversuche durchgeführt, die nicht mit den Anhaltspunkten des Tatorts überein standen. Und selbst mit diesen verfälschten Versuchsaufbauten ist es ihnen nicht gelungen, den Originalzustand (Brandbild) in Zelle Nr. 5 sowie den Ablauf auch nur annähernd nachzustellen bzw. zu erreichen. Diese Versuche auf der Grundlage falscher Versuchsaufbauten ziehen sich bis heute durch. Genauso verfälscht und respektlos ist die Tatsache, dass alle Polizisten als Zeugen und nicht als mögliche Täter befragt wurden.

© heba  https://umbruch-bildarchiv.org/oury-jalloh-gedenken-2020/
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«Es ist uns wichtig, die Polizeigewalt nicht nur in Deutschland und Europa aufzuzeigen, denn es gibt eine geschichtliche Kontinuität und einen weltweiten zusammenhängenden Kontext.»

Bis heute versuchen Freunde, Bekannte und Aktivist*innen, die Todesumstände aufzuklären. Warum ist es dir und eurer Initiative nach über 14 Jahren ein wichtiges Anliegen, dass der „Fall“ aufgeklärt wird?
    Zum einen, weil Ourys Familie diese Aufklärung und die Gerechtigkeit braucht. Zum anderen, weil die Wahrheit über diesen mordenden Staat an die Öffentlichkeit getragen werden muss: am Ende wird stehen, dass die Polizei Oury angezündet hat. Ourys Fall ist einer von vielen und exemplarisch für alle Menschen, die durch Polizeigewalt umgekommen sind. Und wo aufgrund rassistischer Motive Verfahren manipuliert und verdreht werden, um Morde von staatlicher Hand zu vertuschen. Und da steht Ourys Fall für einer der wenigen, der durch die Beständigkeit der Angehörigen, Freund*innen und Aktivisten*innen, sowie der unabhängig erlangte Faktenlage, die  Eindeutigkeit zu Mord aufzeigen kann. Ohne Ourys Freunde, die von Anfang an die richtigen Fragen gestellt haben, wäre der Fall niemals vor Gericht und an die Öffentlichkeit gelangt.
Wir wollen den Menschen zeigen, dass wir solche Aufklärungsarbeit selbst in die Hand nehmen müssen, und wir wurden immer von vielen solidarischen Gruppen und Einzelpersonen unterstützt, nicht nur in Deutschland, denn Polizeigewalt gibt es über all auf der Welt. Es ist uns wichtig, die Polizeigewalt nicht nur in Deutschland und Europa aufzuzeigen, denn es gibt eine geschichtliche Kontinuität und einen weltweiten zusammenhängenden Kontext. Wir können – gemeinsam – aufzeigen, wie das deutsche Rechtssystem nicht funktioniert. Und dass es nicht so ist, wie immer gesagt wird, dass hier die Menschenrechte erfunden wurden, sondern hier die Menschenrechte mit Füßen getreten werden.

Wie geht es der Familie heute?
    Leider sind Ourys Eltern zwischenzeitlich verstorben. Besonders traurig ist, dass Ourys Mama – kurz nachdem sie bei den Gerichtsverhandlungen in Dessau anwesend war –  verstorben ist. Auch sie wurde vor Gericht  respektlos behandelt. Ich erinnere mich noch, wie sie sagte, dass, wenn das Feuerzeug nicht in der Zelle gewesen ist, kann mein Sohn sich nicht selbst angezündet haben. In den Verhandlungen wurde während ihrer Anwesenheit seitens der Polizei viel gelacht, als würde es hier um irgendetwas lapidares gehen. Ekelhaft! Und auch die Richter und Staatsanwälte waren trotz der Anwesenheit von Ourys Mama nicht müde, der Presse zu erzählen, dass Oury angeblich Frauen belästigt habe und ihn in ihren Narrativen als den Täter dastehen haben lassen.
Als die Mama dann nach Guinea zurückgekehrt ist, ist sie an Herzversagen verstorben. Und Ourys Vater  ist vor zwei Jahren verstorben, ebenfalls von Trauer geplagt und ohne Gerechtigkeit für seinen Sohn. Und dann ist da noch Ourys Bruder Saliu. Er wohnt in Guinea, ist aber im engen Kontakt mit uns und kommt immer wieder nach Deutschland für Gesichtstermine und Gedenkprotesten. Wir werden  Ourys Bruder solange unterstützten, wie es nötig ist. Auch wenn wir selbst an die juristischen Schritte nicht glauben, begleiten wir die Familie bis zum Ende des juristischen Weges vor Gericht. Jetzt aktuell haben wir den Bericht von den Sonderberatern, in welchem an der Selbstanzündungsthese weiterhin festgehalten wird2. Bisher haben es die staatlichen Akteur*innen und Institutionen nicht interessiert, wenn jemand in staatlicher Obhut zu Tode kommt. Damals wurde der Familie sogar Geld angeboten, um die Anklage fallen zu lassen, eine Entschädigung von 5000€ sollte reichen. Zudem gab es seit Beginn Repression gegen die Familie, so wurden die Dokumente von Ourys Mama nicht anerkannt und ihr von den deutschen Behörden abgesprochen, dass sie die Mutter ihres eigenen Kindes ist.

Inwieweit seid und wart ihr von Repressionen betroffen?
    Repression gab es von Anfang an und ist elementarer Bestandteil der Vertuschungsversuchen seitens der Polizei und Justiz. Die Vertuschungsarbeit basiert vor allem darauf, die eigenen Strukturen durch das Verbreiten von Lügen und das Verhindern von Wahrheiten aufrechtzuerhalten. Dafür werden Verbrecher aus den eigenen Reihen geschützt, indem Artefakte vernichtet und manipuliert werden, Versetzungen der Beamt*innen in höhere Positionen angeordnet werden, z.B. ins Innenministerium.
 Dabei wird aktiv versucht, Menschen unter Druck zu setzen und zum Schweigen zu bringen. So werden wir als Freund*innen und Aktivisten*innen von Anfang an diffamiert und einzuschüchtern versucht. Viele Freunde von Oury – vor allem Freund*innen aus der Black Community in Dessau – wurden allein aufgrund dessen, dass sie auf den Gedenkdemonstrationen mit dabei waren, mehrfach von der Polizei kontrolliert und sogar abgeschoben. Mouctar Bah, dem besten Freund von Oury, wurde seine Ladenlizenz abgezogen, sodass er seine Existenzgrundlage verlor. Zudem wurde sein Laden sowie seine Wohnung rechtswidrig geräumnt. Am 7.1.2012 wurde unsere Gedenkdemo in Dessau von einer Hundertschaft Polizisten überfallen. Es war eine totale Traumatisierung für die Menschen, die Teil der Gedenkdemonstration waren. Im Anschluss gingen mehrere Strafanzeigen an die Mitglieder der Initiative raus. So standen die Mitglieder der Initiative und deren Unterstützer*innen in den letzten 15 Jahren mehrfach vor Gericht – über Kriminalisierung wird versucht, uns unsere Glaubhaftigkeit zu nehmen. Des Weiteren werden wir überwacht: die Polizei ist angewiesen, uns gesondert zu verfolgen, es wurden bis 2013 (eigentlich bis heute) Überwachungsmappen über einzelne Mitglieder der Initiative angefertigt, unsere Telefone werden überwacht und auch blockiert. Wenn wir z.B. Mahnwachen organisieren, können wir nicht mehr über Telefon miteinander kommunizieren, was auch Einfluss auf Freund*innen und Aktivisten*innen in unserem Umfeld hat.
Diffamieren ist eine spezielle Art von Repression, die wir auch bei anderen Angehörigen und Initiativen gegen Polizeigewalt in anderen Ländern beobachten. Dabei werden die Familienangehörigen und Freunden*innen vor Ort, aber auch jene in anderen Ländern  re-traumatisiert.

Eine Demo für Oury Jalloh im Januar 2017 in Dessau. Seit 15 Jahren fordern Aktivist*innen Aufklärung im Fall. (Quelle: Flickr / strassenstriche.net / CC BY-NC 2.0)
Eine Demo für Oury Jalloh im Januar 2017 in Dessau. Seit 15 Jahren fordern Aktivist*innen Aufklärung im Fall. (Quelle: Flickr / strassenstriche.net / CC BY-NC 2.0)

Es gibt eine Reihe bekannter „Ungereimtheiten“. Und: Es geht hier um eine Kette von Skandalen. Welche wären das genau?
    Ja da gibt es eine ganze Reihe an Ungereimtheiten:
Vom Feuerzeug habe ich schon erzählt. Die Tatrotermittlung wurde dahingehend manipuliert, dass die Selbstanzündungsthese bereits vor Untersuchung/Betreten des Tatorts angenommen wurde, kein Brandsachverständiger hinzugezogen wurde, die Dokumentation der Tatortbegehung vorzeitig abbricht, Brandschuttbestände nur teilweise asserviert wurden.
Auch in der Gerichtsmedizin wurden die Berichte manipuliert, wie wir erst 2015 – als wir die Autopsiebilder von einem unabhängigen Gutachter in Kanada überprüfen ließen –  fehlt komplett die Dokumentation über den Zustand der Luftröhre – dem Organ, mittels welchem festgestellt werden kann, ob Oury wirklich an einem inhalativen Hitzeschock verstorben ist oder ob er nicht bereits vorher schon tot war.   
Zudem wurden Polizisten als Zeugen und nicht als mutmäßliche Mörder befragt, es gibt Hinweise auf Tatverdächtige, denen nicht nachgegangen wird und Widersprüchlichkeiten in den Zeugenaussagen werden nicht berücksichtigt. Auf unserer Webseite haben wir alle Fakten transparent für die Öffentlichkeit bereitgestellt.
Gerade weil es all diese Ungereimtheiten gibt, versuchen wir diese faktisch zu widerlegen. Wir führen selbstorganisiert und unabhängig zusammen mit Expert*innen Ermittlungsarbeiten durch. Wir gehen allen Ungereimtheiten nach und versuchen dann diese faktisch aufzuarbeiten, so zum Beispiel die Rekonstruktion des Brandbildes, welches durch unsere 2013 in Irland selbstorganisierten und mit einem unabhängigen Brandsachverständigen durchgeführten Brandversuche belegt wurde3, nur durch das Verwenden von Benzin erreicht werden kann. Wir haben aufgehört vom Staat zu fordern. Wir haben die Aufklärung selbst in die Hand genommen, um die Ungereimtheiten aufzuzeigen und die selbst gewonnen Fakten in die Öffentlichkeit zu bringen. Und wir sind nicht die einzigen: es gibt viele Initiativen und Einzelpersonen, die für Aufklärung von Morden und Verbrechen durch Polizeigewalt kämpfen. So haben wir im Oktober 2019 eine Internationale Lösungs- und Strategiekonferenz organisiert, wo wir mit Initiativen und Angehörigen von Opfern von Polizeigewalt aus verschiedenen Ländern Europas Strategien ausgetauscht und diskutiert haben. Es gibt zahlreiche Parallelen in den Methoden und Praktiken der Polizei-, Justiz- und Politikapparate. Die Ungereimtheiten selbst zu hinterfragen und die Aufklärungsarbeit unabhängig in die Hand zu nehmen, ist eine mögliche Lösungsstrategie von vielen.

«...die Aufklärung von Ourys Folterung und Ermordung ist nicht gewollt.»

Wieso hat die Staatsanwaltschaft in Halle das Verfahren im Oktober 2017 eingestellt?
    Im Jahr 2016 hat die Staatsanwaltschaft Dessau aufgrund des Drucks, welche die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh aufgebaut hat, einen eigenen Brandversuch durchgeführt (Brandversuch in Schmiedeberg). Und obwohl dieser Brandversuch nicht dem Original in der Zelle entsprochen hat – quasi alle Variablen des Versuchs so manipuliert waren, dass das Feuer besser brennt –, haben sie das Brandbild vom 7.1.2005 ohne Brandbeschleuniger nicht erreichen können. Daraufhin hat die Staatsanwaltschaft Dessau im Februar 2017 ein Gutachtertreffen einberufen, bei welchen die Gutachter zu dem einstimmigen Ergebnis gekommen sind, dass das Brandbild ohne Brandbeschleuniger nicht zu erreichen ist. Also das, was die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh bereits 2013 veröffentlicht hatte4. Daraufhin musste die Staatsanwaltschaft Dessau sich eingestehen, dass sie ohne diesen wissenschaftlichen Fakt Ourys Tod nicht mehr erklären können. Und der leitende Oberstaatsanwalt Folker Bittmann hat dann ein Mordermittlungserfahren eingeleitet: Ermittlung wegen Mordes von zwei namentlich genannten Polizisten aus dem Revier. Diese begründete Einleitung des Ermittlungsverfahrens wurde an den Generalbundesanwalt weitergeleitet mit der Bitte um Übernahme des Verfahrens. Die Bundesanwaltschaft hat dies abgelehnt und zurück geleitet an die Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg. Und unserer Meinung nach wäre es schwierig den Fall von der gleichen Staatsanwaltschaft einstellen zu lassen, die nach 13 Jahren zugegeben hat, dass es dann doch Mord war, entgegen ihrer ganzen bisherigen Ermittlungsausrichtung und dem Festhalten an der Selbstanzündungsthese. Weshalb das Verfahren dann an eine andere Staatsanwaltschaft weitergegeben wurde, die nach nur zwei Monaten das Verfahren – nach angeblicher Sichtung von 10.000 Seiten an Akten – eingestellt hat.
Und die Frage ist: Warum haben sie es eingestellt? Natürlich deshalb, weil sie es nicht aufklären wollen. Unsere Anwältinnen haben dann Widerspruch eingereicht und wir haben eine Anzeige wegen Mordes gegen einen der Polizisten gestellt, der auf jeden Fall dabei war und Oury mit umgebracht hat. Daraufhin hat die Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg den Fall übernommen, die Einstellung der Ermittlungen bestätigt und dann ging das immer so weiter, bis das Oberlandesgericht die Einstellung bestätigt hat und jetzt liegt der Fall beim Bundesverfassungsgericht. Und nochmal: das Verfahren wurde eingestellt, weil es von Anfang an nicht vorgesehen war, irgendjemanden wegen Mordes anzuklagen oder zu verurteilen. Das ist bis heute nicht gewollt – die Aufklärung von Ourys Folterung und Ermordung ist nicht gewollt.

Mehrere Gutachten lassen eigentlich keine Zweifel aufkommen, dass Jalloh ermordet wurde. Ein rechtsmedizinisches Gutachten, das eure Gedenkinitiative für Jalloh in Auftrag gab, stellte 2019 fest, dass er vor seinem Tod massiv misshandelt worden war. Wurde Oury Jalloh verbrannt, um Spuren von körperlicher Gewalt zu verheimlichen?
    Im Jahr 2019 haben wir ein Fachradiologisches Gutachten in Auftrag gegeben, in der Radiologie in Frankfurt am Main am Universitätsklinikum. Und wir haben uns dort zusammen mit Vertreter*innen der Internationalen Unabhängigen Kommission zur Aufklärung des Falls von Oury Jalloh computertormografische Bilder von Ourys Leichnamen angeschaut. Seit 2015 hat es immer geheißen, Oury hätte ein gebrochenes Nasenbein gehabt, doch es sei nicht festzustellen, ob diese Verletzung vor seinem Tod oder nach seinem Tod (postmortem) entstanden ist. Doch durch die Präsentation der Röntgenbilder durch Dr. Bordelle haben wir den Beweis, dass nicht nur Ourys Nase gebrochen war, sondern auch sein Schädel sowie mindestens zwei seiner Rippen. Und das, bevor er gestorben ist, denn es ist eine eindeutige Hämatombildung sichtbar.
Man muss dazu sagen, dass es bereits vor Ourys Ermordung zwei ungeklärte Todesfälle im Dessauer Polizeirevier gab. Bei den beiden anderen Todesfällen gab es erhebliche Folterungen, die bis zum Tod geführt haben: Mario Bichtemann, der zuvor in der gleichen Zelle wie Oury umgebracht wurde, hatte einen Schädelbasisbruch und ebenfalls Hämatome und gebrochene Rippen. Und auch Hans-Jürgen-Rose, der 1997, kurz nachdem er im Polizeirevier Dessau war, an schweren, inneren Verletzungen verstorben ist. Besonders bei Hans-Jürgen-Rose sieht man in den Akten anhand der Autopsiebilder, dass er mit Schlagstöcken von drei verschiedenen Winkeln geschlagen wurde und hat mindestens 43 Schlagstockspuren auf seinem Rücken. Zudem hat er großflächige Hämatome an verschiedenen Körperstellen, vor allem am Gesäß, die auf Fußtritte zurückzuführen sind. Es besteht hier bei Hans-Jürgen-Rose der dringende Verdacht, dass sie ihn an eine Säule im Speisesaal des Polizeirevier Dessaus gefesselt und gefoltert haben. Eben gerade deshalb, weil es bereits zwei Tode mit körperlicher Misshandlung im Polizeirevier Dessau gab und dann Oury mit gebrochenem Nasenbein, Schädel und Rippen, liegt die Annahme nahe, dass Oury angezündet wurde, um diese grauenhafte Tat zu vertuschen. Bei den anderen beiden Toten handelte es sich um eine 36-jährige, männliche Person: Mario Bichtemann wird als Obdachloser betitelt und Hans-Jürgen-Rose, der sein Hab und Gut im Auto hatte, ebenfalls, was auf rassistische, sozial-darvinistische, chauvinistische Denkweisen und Ideologien in der Dessauer Polzei schließen lassen, die dort auf brutale Art und Weise ausgelebt werden. Ein gravierendes Problem bei der Polizei.

«Das System kann nur überleben, wenn es Lügen erzählt – und zwar in allen Bereichen.»

Regelmäßig sterben Menschen in Gewahrsam oder durch Polizeischüsse. Eine genaue Durchsicht der Fälle legt aber nahe, dass Menschen of Color in besonderer Weise dem Risiko ausgesetzt sind, in staatlicher „Obhut“ ihr Leben zu verlieren oder durch die Polizei getötet zu werden. Gibt es einen institutionellen Rassismus oder sind das nur Einzelfälle?
    Ja natürlich ist es ein institutioneller Rassismus, der sich nicht nur auf die Polizei beschränkt, sondern auch auf die Justiz, die Politik und die Gesellschaft insgesamt. Weil diese Morde nur möglich sind, weil die Gesellschaft dazu schweigt. Deswegen sollte Rassismus nicht nur auf die Institutionen beschränkt werden, sondern eben auch als strukturelles Problem in der Zivilgesellschaft.

Nadine, worin siehst du begründet, dass struktureller Rassismus und Polizeigewalt systemimmanent sind?
    Wir als Initiative sehen das im historischen Kontext begründet. Weil das ganze System, indem wir hier leben, aufgebaut ist auf Ausbeutung, Unterdrückung, Genoziden, Folter, Kriege und sämtliche Formen von Unterdrückung. Und die ganze Geschichte der Sklaverei über die Kolonialzeit, über den Faschismus und die Re-Nazifizierung ist bis heute nicht aufgearbeitet, nicht ausreichend erklärt, ist weder Thema an Schulen oder Universitäten, noch im gesellschaftlichen Kontext ausreichend benannt und diskutiert, weshalb es systemimment ist. Und damit koloniale Denkweisen wieder und wieder re-produziert. Das System kann nur überleben, wenn es Lügen erzählt – und zwar in allen Bereichen. Nicht nur in der Polizei, Justiz und Politik, besonders auch in den Universitäten in allen Fachbereichen.

Wie ließe sich das verändern?
    Radikaler Infragestellen aller Strukturen, selbstkritische Hinterfragung jeder Person mit sich selbst, Aufbau selbstorganisierter, staatsunabhängiger Strukturen – sozusagen eine radikale Infragestellung des gesamten Systems und dann eben auch die Konsequenzen daraus ziehen: das ist das, was wir mit unserer Arbeit machen. Und dann nach dieser selbst- und kritischen Analyse danach handeln bzw. versuchen Alternativen aufzubauen, die sich nicht an den Werten dieses Systems orientieren – nicht an den Philosophen und Denkern orientiert – und nicht nach der Logik des Systems funktionieren. Und ich denke, dass es ganz wichtig ist sich Freizudenken vom System. Und das ist ziemlich komplex, vor allem für die hier aufgewachsen und sozialisiert sind.

Gabriele Heinecke vertritt die Familie von Oury Jalloh aktuell und spricht von Vertuschung. Seid ihr mit den Rechtsanwältinnen auch in Kontakt und welche weiteren Kooperationen sind hilfreich, notwendig und wichtig?
    Zum Verständnis: ohne die Initiative gäbe es keine Rechtsanwältinnen, das war von Anfang an so. Wir organisieren die Anwältinnen und besprechen mit den Anwält*innen juristische Möglichkeiten und wir agieren als Vertretung der Familie, denn Ourys Bruder Saliu lebt in Guinea. Und deshalb passiert nichts, was in dem Fall passiert ohne Rücksprache mit uns. Das ist übrigens so mit allem, was mit Ourys Fall passiert. Wir organisieren auch die Bezahlung der Anwältinnen, denn die Anwältinnen müssen wir bezahlen. Wir arbeiten sehr, sehr eng mit den Anwältinnen zusammen, indem wir Ihnen zuarbeiten – ohne uns würde kein*e Anwält*in selbstständig irgendwas unternehmen. Was übrigens auch Teil der Struktur ist.

Eine Feature-Reihe5 von der Journalistin Margot Overath skizziert ebenfalls ein Bild, dass Jalloh ermordet worden ist. Die Frage muss also doch lauten: Welche Konsequenzen haben diese Recherchen und Erkenntnisse?
    Ohne die Recherchen der Initiative hätte Margot Overath keine Grundlage für ihre Recherche gehabt. Deshalb sollte die Frage eigentlich lauten: Welche Konsequenzen haben unsere Recherchen? Und wie gehen Medien mit unseren Recherchen  um? Und letztlich ist es sehr schwer von den Medien, die Deutungshoheit von Polizei, Justiz und Politik übernehmen, ernst genommen zu werden. Das ist ein Resultat der Kriminalisierung unserer Personen durch die Staatsanwaltschaft. Unter anderem aber auch von Margot Overath, die unsere Arbeit für sich und ihre Zwecke benutzt. Was übrigens auch Teil der Strukturen ist.
Die von uns erarbeiteten Fakten, sofern sie denn von den Medien in die Öffentlichkeit transportiert werden, erzeugen Unverständnis und schockieren viele Menschen – sie sensibilisieren viel Menschen für die Thematik. Aber letztlich versuchen die offiziellen Stellen, wie zuletzt die Sonderberater mit ihrem Bericht Ende August 2020, nicht nur unsere Arbeit, sondern auch die von kritischen Journalisten*innen zu diskreditieren, indem wir als Verschwörungsideolog*innen diffamiert werden. Letztlich hat dies die Konsequenz, dass Polizei, Justiz und Politik noch mehr und weiterhin lügen müssen, um die Vertuschung aufrechtzuerhalten. Und auf der anderen Seite sind es immer noch zu wenige Leute aus der Zivilgesellschaft, die gegen die Ungerechtigkeit aufstehen. Und alle die, die mit uns aufstehen, werden konsequent versucht zum Schweigen zu bringen.

Abgesehen davon scheint sich die öffentliche wie gesellschaftliche Empörung in Grenzen zu halten: Wenn eine Gesellschaft nicht nach den Todesumständen eines Poc-Asylbewerbers fragt, aber immer öfter autoritäre, extrem rechte Ideologien und menschenfeindliche Positionen zu hören, lesen sind, klingt das erst mal nicht „rosig“ in Bezug auf ein vielfältiges Miteinander. Was gibt dir Hoffnung, dass das trotzdem möglich ist?
    Die Black Community, solidarische Initiativen sowie Einzelpersonen, supporten seit Jahren die Familie und Initiative in Gedenken an Oury Jalloh und stehen jeden 7.1.2005 mit uns zusammen in Dessau. Aber gleichzeitig schweigt die weiße Mehrheitsgesellschaft dazu und geht in Richtung rechts und akzeptiert auch, dass sich rechte Denkweisen und Ideologien in Polizeistrukturen, Militärstrukturen und politische Strukturen immer weiter erstarken – es wird dem nichts entgegengesetzt. Deshalb würde ich die Frage auch umdenken: Es geht hier nicht um eine Hoffnung, die wir haben, dass das System sich ändert, weil wir den Fall aufklären. Sondern unser Ziel besteht darin, dass wir für die zukünftige Geschichtsschreibung – für den geschichtlichen Kontext der Gesellschaft – die Fakten in die Geschichtsbücher bringen. Die Fakten darüber, wie in Deutschland und Europa mit Menschen, die durch rassistische Polizeigewalt ermordet wurden, umgegangen wird. Wir sind Zeugen davon, was passiert. Es ist wichtig, dass wir diese Fakten so breit wie möglich streuen. Aber wenn die Leute nicht von selbst aufwachen, was wir in den letzten 15 Jahren immer wieder beobachtet haben, wird trotz der vielen Unterstützungen, die wir erhalten haben, weiterhin gemordet. Denn im letzten Jahr sind weiterhin viele Menschen durch Polizeigewalt gestorben, trotzdem bauen Verfassungsschutz und Geheimdienste Nazistrukturen auf, trotzdem gibt es Todeslisten und diejenigen, die diese Todeslisten erstellt haben, laufen frei herum.
Solange sich die Mehrheitsgesellschaft nicht daran  stört, gibt es wenig Hoffnung für diese Gesellschaft. Aber wie vorher schon gesagt, letztlich ist der historische Kontext dieser Gesellschaft hier einer, der auf Unterdrückung, Morden, Genozid und Folter gebaut ist. Und das versuchen die um jeden Preis zu erhalten.
Wie Steve Biko sagte: „Man muss das gesamte System umstürzen, bevor man die Hoffnung haben kann, dass Schwarze und Weiße einem gemeinsamen Feind entgegentreten können.“


Fußnoten:

1. Institutionellen Rassismus im Speziellen erfassen wir nicht nur als Rassismus, der in Institutionen erscheint, sondern als Rassismus, der in Institutionen eingeschrieben ist, also sich in deren Praxen und Anordnungen systematisch organisiert. Dabei ist es unerheblich, inwieweit Akteur*innen innerhalb der Institutionen absichtsvoll handeln oder nicht, insofern ihre Routinen im Effekt Ungleichheitsverhältnisse stabilisieren und legitimieren. Im Hinblick auf die Institution der Polizei bilden Praxen und Anordnungen Mechanismen, auf Grundlage derer einzelne Polizist*innen handeln.

2. https://initiativeouryjalloh.files.wordpress.com/2020/08/pm-28.8.2020_sonderberaterlsa.pdf

3. https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/brandgutachten/

4. https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/brandgutachten/pressekonferenz/

5. https://www.ardaudiothek.de/tiefenblick-oury-jalloh/75229674