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Initiative 19. Februar Hanau

Am 19. Februar erschoss Tobias Rathjen in Hanau zuerst neun Menschen an insgesamt 4 Tatorten in der Hanauer Innenstadt und im Hanauer Stadtteil Kesselstadt, später seine Mutter und dann sich selbst. Der Täter verfasste – wie zuvor auch in Christchurch oder in Halle – extrem rechte Inhalte im www und verbreitete in seiner „Botschaft an das gesamte deutsche und amerikanische Volk“ sein rassistisches, islamfeindliches, antisemitisches und von verschiedenen Verschwörungsmythen geprägtes Weltbild. Zudem wertet Rathjen Frauen* ab, spricht von Plänen zur „Säuberung“ ganzer Regionen.

Während sich viele Politiker*innen, Kardinäle und Promis ‚fassungslos‘ und ‚betroffen‘ vom rechtsterroristischen Anschlag zeigten und dies auch in der Öffentlichkeit äußerten, waren es migrantische Communities, die ihre Vereinshäuser öffneten und einen Ort des Trauerns und Zusammenkommens schufen. Vertreter*innen der Stadt ließen sich auch in den Folgetagen nicht blicken. Und es waren nicht die Politiker*innen aus Hanau, sondern Angehörige und Freund*innen der Opfer und Verletzte, die sich auf Mahnwachen, Kundgebungen und Beerdigungen ein Versprechen gegeben haben: Dass die Namen der Opfer Ferhat Unvar, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Gökhan Gültekin und Hamza Kurtović nicht vergessen werden. Darüber hinaus sollte es nicht bei bloßer Betroffenheitsbekundungen bleiben. Schon vor dem Anschlag gab es in Hanau die Gruppe „Solidarität statt Spaltung“. Aus diesem Kreis heraus war die Gruppe ab dem 19. an unterschiedlichen Stellen unterwegs, etwa auf Demos und Mahnwachen. Im Rahmen dieser Gedenkkundgebungen hat sich die „Initiative 19. Februar“ gebildet, um „der Solidarität und den Forderungen nach Aufklärung und politischen Konsequenzen einen dauerhaften Ort zu bieten“1. Der Ort der Begegnung und des Vertrauens bietet Raum für das Erinnern und das Trauern, die Solidarität und gegen das Vergessen. Das Begegnungszentrum in Erinnerung an den Mordanschlag, ein Projekt, welches die Initiative realisierte. Hier – gegenüber des Tatortes – am Heumarkt, können Angehörige, Freund*innen und Aktivist*innen sich gegenseitig Kraft geben, weitere Projekte planen/organisieren. Ein Treffpunkt, in dem geschützt oder öffentlich über Trauer, über Rassismus-Erfahrungen und über Solidarität gesprochen werden kann. Der Laden stand seit 2 Jahren leer, kostet im Monat 2.500 Euro Miete, der Mietvertrag läuft drei Jahre, die Initiative hat eine Spendenseite initiiert2.

Die Initiative fordert, dass Rassismus von der Politik endlich als Problem benannt wird. Tatsächlich hat die Kanzlerin etwa 50 Vertreter*innen von Migrant*innenorganisationen und Religionsgemeinschaften anlässlich der rassistischen Morde zum Gespräch ins Kanzleramt geladen. Es gab einen öffentlich inszenierten Gedenkmarsch und Forderungen nach Konsequenzen. Dabei gibt es einen sogenannten Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus3. Die Bundesregierung hat ihn zuletzt im Juni 2017 aktualisiert und ächtet darin auch die Diskriminierung von Homo- und Transsexuellen. Grundsätze sind unter anderem, dass von Diskriminierung betroffene Menschen Schutz erhalten, rassistisch motivierte Gewalt bestraft wird, Rassismus und Hass im Internet bekämpft werden. Gefördert werden sollen politische Bildung, Diversität im Arbeitsleben und zivilgesellschaftliches Engagement. Bundesweit gibt es zahlreiche Stiftungen und antirassistische Projekte und mittlerweile muss auch die Initiative 19. Februar Hanau dazu zählen, die nicht nur Kundgebungen, Demos und Events organisiert, sondern „für lückenlose Aufklärung, für Gerechtigkeit und Unterstützung, für „angemessenes Erinnern, für politische Konsequenzen“ kämpft und streitet.
Die Geschehnisse während und nach der Tat legen ein Versagen der Polizei und Behörden offen. Das Gespräch mit Seda von der Initiative zeigt, wie rassistisches, respektloses und menschenrechtswidriges Verhalten vonseiten der Polizei und Behörden im Umgang mit den Opfern, den Angehörigen und Menschen in Hanau weiterhin im Alltag praktiziert wird.

Rückblickend betrachtet war der rassistische/rechtsterroristische Anschlag in Hanau nach Aussage vonseiten der Betroffenen die logische Folge der extrem rechten Gesamtstrategie der letzten Jahre. Was sagt das über die Qualität der (demokratischen) Gesellschaft hinsichtlich der Verwirklichung von Freiheits-, Sicherheits- und Gerechtigkeitsaspekten aus?
Es zeigt uns leider wieder mal, inwiefern Jugendliche oder Menschen mit ausländischen Wurzeln nicht genauso geschützt werden wie Menschen ohne jeglichen Hintergrund. Die Behandlung der Verletzten und Überlebenden in der Nacht vom 19. Februar 2020 kann ausschließlich als reinste Schikane bezeichnet werden. Die Polizei war viel zu spät vor Ort, obwohl die Wache weniger als 500 m Luftlinie vom ersten Tatort entfernt liegt. Die Rettungskräfte, die schon viel früher vor Ort waren, durften vor Ankunft der Polizei nicht rein, um Erste Hilfe zu leisten. Hanau ist eine Stadt mit sehr viel Polizeipräsenz, gerade am Heumarkt und in Kesselstadt, doch am 19. Februar 2020 wurden sie  ihrem Beruf einfach nicht gerecht. Überlebenden wurden gesagt, sie sollen knapp 3 km in die Innenstadt zur Polizeiwache laufen, um dort ihre Aussage zu machen. Als es fälschlicherweise hieß, der Täter käme zurück, versteckten sie sich hinter den Verletzten und benutzten sie als Schutzschild. Als Vili Viorel Păun die Schüsse am Heumarkt mitbekam und den Täter mit seinem Auto bis nach Kesselstadt verfolgte, rief er unterwegs viermal bei der Polizei an, doch die Anrufe wurden nicht entgegengenommen. Wenige Momente später wurde Vili in Kesselstadt in seinem Auto erschossen.
    Auch nach dem 19. Februar wurden die Jugendlichen in Kesselstadt weiterhin grundlos kontrolliert, zum Teil auch geschlagen. Die neun jungen Opfer wurden ohne Einverständniserklärung der Eltern obduziert und erst mehr als eine Woche danach in einem unwürdigen Zustand den Familien übergeben. Und das ist alles nur ein Bruchteil des Versagens und des respektlosen Verhaltens der Polizei und der Behörden, die mit dem 19. Februar einhergehen.
Viele Angehörige wissen, dass, wenn ihre Kinder mit ihrem Namen ein solches „Manifest“ wie der Täter mehrfach an das BKA geschickt hätten, dass es keine 2 Sekunden gedauert hätte, bis die Polizei vor ihrer Tür gestanden hätte. Doch im Falle eines Mannes mit einem deutschen Namen wurden mehrere Strafanzeigen einfach ignoriert. Nicht einmal die Homepage des Täters, auf die er ebenso mehrfach verwies, wurde überprüft, wobei man hier sogar sein Bekennervideo gefunden hätte. Es wurde nicht überprüft, ob er Waffen besitzt und ob er eine reale Gefahr darstellt. Er machte aus seiner rechten Gesinnung und seinen Gewaltfantasien keinen Hehl, er gab sich persönlich direkt bei den Behörden mehrfach zu erkennen, er veröffentlichte unter seinem Klarnamen Manifeste und Bekennervideos – nicht im Darknet – frei zugänglich und offen im www und auf Youtube. Und das bereits seit Jahren.

«Es war ganz eindeutig bewusste Ignoranz vonseiten der Behörden – was sich eben jetzt, sechs Monate später, weiterhin in der Nicht-Aufarbeitung des 19. Februar zeigt.»

Es kann unmöglich der Fall gewesen sein, dass er den Behörden „durchgerutscht“ ist. Es war ganz eindeutig bewusste Ignoranz vonseiten der Behörden – was sich eben jetzt, sechs Monate später, weiterhin in der Nicht-Aufarbeitung des 19. Februar zeigt.
Rechter Terror ist momentan die größte Bedrohung für unsere Demokratie. Doch es wird bei weitem immer noch nicht so ernst genommen, wie es sein sollte. Weiterhin wird die Migration kriminalisiert: unsere Leben, unsere Biografien, unsere Zufluchtsorte wie Shisha-Bars werden kriminalisiert, wir werden zur Zielscheibe für solche Attentäter gemacht, die sich von der Regierung und von ihrer Dialektik dazu berufen fühlen, im Sinne der Regierung, der Nation, zu handeln, wenn sie solche Morde begehen. Diese Schande zieht sich schon viel zu lange durch Deutschland, doch was es viel beschämender macht, ist das Nicht-Handeln, das Nicht-Reagieren und diese totale Ignoranz unserer Lebensrealitäten und unserer Gefährdung in diesem Land.

Wie kann eure Initiative dieser Verrohung etwas entgegensetzen?
    Unsere höchste Priorität ist es, den Betroffenen und den Familien, die ihre Kinder verloren haben, Gehör zu verschaffen. Ihnen eine Plattform aufzubauen und zu bieten, damit sie ihre Geschichten und die ihrer Kinder erzählen können. Damit die Namen und Gesichter ihrer Kinder nicht vergessen werden, damit diese Tat nicht vergessen wird und einfach wieder zur Tagesordnung zurückgekehrt wird.
Denn für sie und für Hanau wird es kein Zurück zur Normalität mehr geben. Sie haben ganz klare Forderungen. Sie wollen nicht, dass ihre Kinder umsonst gestorben sind. Sie wollen Veränderung sehen und weitere Eltern und Familien davor bewahren, dasselbe Leid durchmachen zu müssen wie sie. Sie wollen Gerechtigkeit. Und das sollte in einer Demokratie ebenfalls oberste Priorität haben, doch bis heute hat sich kaum etwas getan. Der Gedanke, dass die Akten einfach geschlossen und die „Fälle“ wieder unter den Teppich gekehrt werden, ist beängstigend. Doch aus der Erfahrung heraus liegt diese Möglichkeit leider sehr nahe.
Deshalb ist es umso wichtiger, dass die Zivilgesellschaft und auch die Betroffenen und Hinterbliebenen sich selbst organisieren, und die Arbeit leisten, die die Regierung versäumt. Denn sie sind nicht alleine. Es herrscht unfassbar viel Solidarität mit Hanau, die Unterstützung aus der Zivilgesellschaft ist weiterhin sehr groß und gibt Hoffnung und auch Kraft, weiterzumachen.

Was für dringende Fragen haben sich nach dem Anschlag ergeben und was sind eure Forderungen und Wünsche?
Die größte Frage ist natürlich die nach der Arbeit bzw. Nicht-Arbeit der Behörden in Bezug auf den Täter und all die Warnsignale. Auch Vilis Anrufe und seine Zivilcourage, die zu seinem Tod führte, ist ein großes Thema, zu dem bis heute noch keine offizielle behördliche Stellungnahme erfolgte.
Es gibt von behördlicher Seite wenig Kommunikation, kaum ein Dialog auf Augenhöhe mit den Familien. Es gab bisher viele Treffen mit Politiker*innen, doch es wurde bis heute keines der von ihnen geleistete Versprechen umgesetzt. Nicht mal ein Prozess in Gang gesetzt. Viele Familien können in ihren derzeitigen Wohnungen nicht mehr leben und bleiben. Die Familien aus Kesselstadt wohnen alle unmittelbar direkt neben dem Tatort oder neben dem Haus des Täters, in dem sein Vater immer noch unter Polizeischutz lebt. Es sind unzumutbare Zustände, in denen die Familien zurückgelassen werden und leider wurden für diese Familien bis heute noch keine neuen Wohnungen gefunden. Wir als Initiative haben deshalb selbst eine Kampagne zur Wohnungssuche gestartet und begleiten die Familien zu den Besichtigungen, wenn sich mal etwas ergeben sollte.
Auch die Frage nach der finanziellen Absicherung ist immer noch unbeantwortet. Viele können und wollen nicht mehr arbeiten, einigen wurde auch im Laufe der letzten sechs Monate gekündigt. Sie müssen sich bis heute mit Krankmeldungen, Krankengeld und Jobsuche herumschlagen, was absolut nicht ihre Aufgabe sein sollte. Wir unterstützen sie da natürlich auf allen Ebenen.
Weitere Forderungen der Familien sind  zum einen die Aufklärung und eine Stellungnahme zu dem behördlichen Versagen sowie die Aufrechterhaltung der Erinnerung an ihre Kinder und die Thematisierung des 19. Februars und rechten Terrors in den Schulen.

Wie lautet das Fazit im Umgang mit den Opfern und Angehörigen? Und wie bewertest du in diesem Zusammenhang die mediale Berichterstattung?
Was mir persönlich sehr negativ aufgefallen ist, ist, dass der Ort „Shisha-Bar“ zu massiv in den Fokus gestellt wird. Von insgesamt 4 Tatorten war nur einer eine Shisha-Bar und von 9 Opfern wurde nur eines in dieser Shisha-Bar ermordet. Die anderen Tatorte waren eine Bar, ein Kiosk und eine Sport-Bar. Es waren keine sogenannten „Shisha-Morde“ wie ganz am Anfang mal eine Schlagzeile lautete. Dadurch wird die durch rechte Hetze propagierte Sprache nur verstärkt und es erweckte von Anfang an die Vermutung, es handele sich um Clan-Kriminalität, um eine Milieu-Tat, um Drogen-Konflikte.
Für viele ist die Shisha-Bar immer noch ein vermeintlich krimineller Ort, wo illegale Geschäfte gemacht werden und „gefährliche“ Menschen drin sitzen. Wenn es dann noch heißt, es wurden 9 Menschen in einer oder in mehreren Shisha-Bars ermordet, oder noch schwammiger und reißerischer „Schießerei in Shisha-Bar“, werden jegliche rassistische Klischees und Vorurteile bedient und bevor man handfeste Informationen hat und die Tat als einen rechten Terrorakt einstufen kann, schießen einem sofort Bilder und Theorien in den Kopf, die von den Medien jahrelang geschaffen und erfolgreich etabliert wurden.
Bei der Schlagzeile „Schießerei in Shisha-Bar“ – und das noch in einer migrantisch geprägten Stadt wie in Hanau – denkt keine*r als Erstes an einen Nazi, der neun unschuldige junge Menschen aus purem Hass und Rassismus ermordet.
Auch die Polizei, die dann irgendwann mal am Heumarkt ankam, verschenkte unfassbar viel wertvolle Zeit damit, die Gegend abzusperren und jeden migrantisch gelesenen Menschen auf den Straßen und in den Lokalen sich an die Hauswände stellen zu lassen und zu durchsuchen, wie man auf vielen Handyaufnahmen von Anwohnern sehen kann. Zu dieser Zeit war der Täter bereits in Kesselstadt gewesen und hat dort 6 weitere Menschen erschossen. Es verging mehr als eine Stunde, nachdem die ersten Schüsse am Heumarkt fielen. Auch das Haus des Täters wurde erst mitten in der Nacht gegen halb 4 Uhr nachts gestürmt, obwohl mehrere Augenzeugen bereits gegen 22 Uhr das korrekte Nummernschild des Täters bei der Polizei angaben. Es ist bezeichnend für die Polizei und für eine Gesellschaft, in der die Kriminalisierung von  Unschuldigen aufgrund ihres Aussehens und ihres Namens derart verankert ist, und reale Gefahren, die von Nazis mit deutschen Wurzeln und deutschen Namen ausgehen, in solchen Ausnahmezuständen gar nicht erst in den Sinn kommen. Das führt letztendlich dazu, dass solche Taten überhaupt möglich sind, dass Warnsignale nicht ernst genommen werden, dass diese Täter im schlimmsten Falle sogar noch geschützt, motiviert werden, und dass am Ende eben so viel Zeit verschwendet wird, dass es für den Täter möglich war, innerhalb von 12 Minuten an 4 verschiedenen Tatorten 9 junge Menschen zu töten und danach sogar noch stundenlang zu Hause sein zu können, bevor die Polizei eintraf und agierte.

Kein Vergessen
Kein Vergessen

Wie wird mit den Rassismuserfahrungen der Angehörigen und Opfer und ihrem spezifischen Wissen umgegangen?
In der Öffentlichkeit leider gar nicht. Die Behörden sind sich darüber bewusst, dass den Familien und vielen Bürger*innen, die das Geschehen beobachten und verfolgen, das behördliche Versagen bewusst ist, jedoch kam es bis heute zu keiner Stellungnahme und zu keinen weiteren Maßnahmen. Die Respektlosigkeit der Polizei hat sich in den vergangenen Monaten nur noch weiter zugespitzt. Es gab keine greifenden Maßnahmen, was die Schützenvereine und das Mitnehmen der Waffen und der Munition mit nach Hause betrifft. Es gab keine greifenden Maßnahmen, was die Kommunikation zwischen BKA, GBA und den Waffenbehörden zur Überprüfung von solchen Manifesten und den Verfassern solcher Manifeste betrifft. Es wird vieles mit Corona entschuldigt und gerechtfertigt – so wie zum Beispiel auch das sehr kurzfristige Verbot der von uns geplanten Demonstration am 22.08.20. Wenn man sich anschaut, was in Deutschland trotz Corona dennoch erlaubt und noch im Rahmen des Möglichen ist – auch ohne Mundschutz, ohne Sicherheitsabstand und mit Reichsflaggen – dann wird einem sehr schnell klar, wie die Prioritäten in diesem Land gesetzt sind.

Was mögen die Gründe dafür sein, dass rechte Terrorpolitik auch heute faktisch erfolgreich ist?
Ich denke der Ausschluss und die Abgrenzung von migrantischem Leben oder kultureller Vielfalt ist ein sehr tiefsitzendes Problem. Die weiße Mehrheitsgesellschaft hat kaum Berührungspunkte mit solchen Lebensrealitäten – die ihrer eigenen gar nicht so fremd sind. Aber sie werden als fremd und durch die mediale Darstellung zusätzlich als gefährlich wahrgenommen. Kaum jemand beschäftigt sich heute noch mit Fakten und mit Realitäten, es wird sich keine Mühe mehr gemacht, Blockaden abzubauen und sich anzunähern und kennenzulernen – was die einzige Art und Weise ist, Vorurteile abzubauen. Es braucht an Kontakt, doch durch die sogenannte Ghettoisierung, durch Benachteiligung bei der Jobsuche und viel zu kleiner Repräsentation auch in der Öffentlichkeit, in den Medien, in der Kunst und der Kultur scheitert es eben daran, Berührungspunkte aufzubauen und Ängste abzubauen. Der Islam wird durch fundamentalistische und extremistische Terrormilizen als eine Kriegs- und Terrorreligion propagiert. Das sind lediglich extremistische Gruppierungen, die die Religion instrumentalisieren und somit morden. Ein islamistischer motivierter Mord oder Terroranschlag bekommt im Schnitt circa siebenmal so viel Medien-Aufmerksamkeit wie ein Terroranschlag eines weißen Rechtsextremisten. Wenn dann noch Parteien wie die AfD im Bundestag sitzen und von „Messermännern“ und „Kopftuchmädchen“ sprechen, die es zu fürchten und abzuschaffen gilt, dann bleibt dem Menschen ohne eigenen Hausverstand nicht viel übrig, als sich davon beeinflussen und beirren zu lassen. Die Gesellschaft ist in einem großen Umbruch, Deutschland pflegt eine Willkommenskultur und solange weiterhin Waffen für Kriege im Nahen Osten aus diesem Land ausgeliefert werden, solange werden auch Menschen, die vor diesen Kriegen fliehen, zu uns kommen. Vielen Menschen sind diese Zusammenhänge nicht bewusst, sie sind falsch oder gar nicht informiert und haben keine zureichenden Quellen oder eben auch keine sozialen Kreise, die besser informiert sind und sie vor diesem Rechtsruck bewahren können.

«Man sollte sich nicht weiterhin wie ein Opfer fühlen, das beschützt werden muss.»

Die (post)migrantische Realität wird mit jedem Anschlag infrage gestellt. Inwiefern ist dein Alltag von Rassismus geprägt und wo erlebst du Solidarität?
Im Vergleich zu vielen anderen postmigrantischen Menschen in Deutschland habe ich - denke ich - sehr viel Glück im Leben gehabt. Die Geschichten, die sie erzählen, sind mir nie passiert. Ich wurde vor kurzem erst zum ersten Mal von der Polizei kontrolliert, während ich auf meine S-Bahn gewartet habe. In der Schule hatte ich großes Glück mit meinen Lehrer*innen, die alle hinter mir standen und mich bis zum Abitur hindurch unterstützt und gepusht haben. Nur ein Lehrer hat gelegentlich mal einen rassistischen Kommentar in meine Richtung fallen lassen, doch der wurde nicht nur von meinen Lehrer*innen, auch von meiner Mitschüler*innen jedes Mal in seine Schranken gewiesen. Trotz all diesem Glück während meiner Schulzeit, muss ich dennoch sagen, dass in den letzten paar Jahren auch ich immer mehr Erfahrungen mache, die mich als Mensch schon fast entwürdigen: Leute in der Bahn, die sich wegsetzen, wenn ich mich in die Nähe setze. Arbeitskolleg*innen, die mich fragen, wieso ich kein Kopftuch tragen muss und wie viele Geschwister ich habe. In einem Randbezirk von Berlin wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben auf offener Straße als „Scheiß Ausländerin“ beschimpft, die „sich verpissen“ soll.
Für mich sind das – ehrlich gesagt – relativ neue Erfahrungen. Ich muss da einfach unfassbar viel Glück im Leben gehabt haben, aber das ist leider nicht die Regel, sondern eine sehr seltene Ausnahme.
Solidarität in solchen Fällen ist sehr wichtig. Es ist wichtig, für Menschen, die derart diskriminiert und stigmatisiert werden – und das meistens in der Öffentlichkeit – dass sie nicht ins Leere fallen und aufgefangen werden. Doch auch das sollte auf Augenhöhe geschehen. Man sollte sich nicht weiterhin wie ein Opfer fühlen, das beschützt werden muss. Es geht nicht darum, in eine „Obhut“ genommen zu werden. Betroffene können sehr gut für sich selbst sprechen und mittlerweile auch stark und souverän mit solchen Momenten umgehen, das sollte man auch jedem Menschen zuschreiben. Es geht viel mehr um Rückenwind und Support. Man sollte sich als Nicht-Betroffene*r nicht den Kampf zu eigen machen und sich als „das Opfer“ in diesen Momenten darstellen oder inszenieren. Es ist viel wichtiger den Betroffenen in diesen Momenten zu zeigen – in ganz unterschiedlichen Formen – das man das Geschehene mitbekommen hat und dass das absolut inakzeptabel ist und man nicht alleine ist. Solche Dinge können auch ganz subtil ablaufen.

«Sie geben einem zu verstehen, dass man handlungsunfähig ist, dass man klein und schwach ist, und jemand „weißen“, privilegierten an ihrer Seite braucht, um gehört und gesehen zu werden.»

Was ist für dich am wichtigsten im Umgang mit Rassismus?
Wie bereits erwähnt – die Augenhöhe und der Respekt. Betroffene von Rassismus werden schnell zu einem politischen Spielball gemacht. Ihr Schicksal, ihre Lebensrealitäten werden instrumentalisiert, um eine bestimmte politische Agenda durchzusetzen. Viel zu oft werden sie auch als bloße „Opfer von Rassismus“ dargestellt und darauf reduziert. Wenn man ihnen zuhört, dann fragt man sie nur nach ihren Rassismus-Erfahrungen, sie werden in Talk-Shows als „Rassismus-Expert*innen“ eingeladen und sollen eine kurze und knackige Antwort abliefern, wie man in 5 Minuten ein Jahrtausend altes Problem, das von der weißen Gesellschaft ausgeht, zu lösen ist.
Viele gehen auch nicht mit Empathie, sondern mit Mitleid an die Sache heran. Und Mitleid ist ebenso degradierend. Sie geben einem zu verstehen, dass man handlungsunfähig ist, dass man klein und schwach ist, und jemand „weißen“, privilegierten an ihrer Seite braucht, um gehört und gesehen zu werden. Man wird quasi nur noch als ein Sozialfall gesehen, der ohne „weiße Verbündete“ gar nicht mehr überleben würde oder könnte. Es ist ein schmaler Grat zwischen Solidarität und Entwürdigung, zwischen Respekt und Mitleid. Wenn man solidarisch sein will, wenn man aktiv werden will, wenn man auf der richtigen Seite der Geschichtschreibung stehen will, dann sollte man sich erst mal bewusst darüber werden, welche Haltung man zu den Betroffenen hat und aus welchen Beweggründen man es macht. Denn keine*r der Betroffenen braucht jemanden, der ihre Texte schreibt, sie „brieft“, sie als Opfer in Szene setzt oder Mitleid mit ihnen hat.

Wie können die Ideologien der Ungleichwertigkeit zurückgedrängt werden?
Kontakt, Kontakt, Kontakt. Wir müssen mehr miteinander zu tun haben. Und das nicht nur auf Demos, auf Podiumsdiskussionen oder politischen Kämpfen. Wir müssen miteinander aufwachsen, die Kulturen des/der Anderen von klein auf mitnehmen und miteinander teilen. Wir müssen uns mehr austauschen, unsere Lebensweisen mehr miteinander vermischen. Wir müssen aufhören von Integration und Deutscher Leitkultur zu sprechen. Verschiedene Sprachen zu sprechen ist etwas Wunderschönes, verschiedene Kulturen zu kennen und zu leben ist etwas Wunderschönes, verschiedene Traditionen und Riten kennenzulernen und weiterzugeben, sogar zu vermischen und weiterzuentwickeln ist etwas Wunderschönes. Es darf nicht mehr als etwas Negatives, als etwas Bedrohliches oder gar als ein „Verfall“ alter Werte und Traditionen angesehen werden. Es ist Fortschritt und das ist etwas Gutes.

Wie sieht es diesbezüglich in Hanau aus? Wo sind solidarische migrantische und nicht-migrantische Kooperationen sichtbar?
Die Initiative 19. Februar Hanau hat sich aus vielen verschiedenen Bündnissen und Gruppierungen gegründet. Einige davon sind die DIDF und DIDF-Jugend, die DGB, der kurdische Verein Hanau, die Metzgerstraße in Hanau, die gemeinnützige Organisation WELLE sowie das Bündnis „Solidarität statt Spaltung“ aus Hanau. Auch über Hanau hinaus geht die Vernetzung weiter über den „NSU Komplex auflösen“ und „Welcome United“ bis hin zu „Seebrücke“ und „Medico International“.


Fußnoten: