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Tag der Befreiung?

Der 8. Mai gilt in Deutschland als ein Tag der Befreiung. Für einige ein Grund, den Sieg der alliierten Streitkräfte gegen Nazi-Deutschland zu bejubeln, für andere ist es ein Tag der Trauer und betrauern die deutschen Opfer, instrumentalisieren das Kriegsende als einen Erinnerungsort der extremen Rechten. Und dann gibt es alljährlich die Debatte darüber, ob wir nicht mal endlich einen Schlussstrich ziehen sollen mit Fragen wie:

Was haben wir noch mit der Generation von damals zu tun?“
 Das ist nicht nur naiv, sondern ist auch unter dem Aspekt des Holocausts und den Verbrechen an Millionen von Menschen zynisch bis verantwortungslos. Verantwortung gegen Verbrechen an die Menschlichkeit gilt immer, hat kein Verfallsdatum. Wir können nur mit einer Erinnerungspolitik und -arbeit dafür sorgen, dass sie modernisiert gehalten wird. Besonders wichtig ist die zeitnahe Auswertung neuer wissenschaftlicher Fragestellungen und Ergebnisse für pädagogische Handlungsfelder.  Auch hier erwachsen aus der multikulturellen Zusammensetzung der Schulklassen neue Anforderungen an Geschichtspädagogik und Gedenkstättenarbeit. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass es trotz der breiten öffentlichen Verankerung des Erinnerns und Gedenkens und der Etablierung entsprechender Orte und Anlässe bisher nicht gelungen ist, Vermittlungen zwischen der Holocaust- und Völkermordforschung und den Praxisfeldern Schule, politische Bildung, Stiftungen und Gedenkstätten systematisch zu verankern.

Ein Grund zum Feiern ist der 8. Mai nicht. Schließlich treten Nationalsozialismus und Holocaust mit dem Verschwinden der Zeitzeugengeneration in einen Zustand der Historisierung. Die Erinnerungen daran werden kalt, die Aushandlungen weniger emotional. Und das birgt eben auch die Gefahr, dass neurechte und extreme Kräfte ihrerseits die Schuldkultur abbauen und Erzählstrukturen in öffentliche Debatten einführen, um diese Kultur zu verleugnen, verharmlosen und neu zu besetzen. Dass es sich bei sogenannten alternativen Fakten und Postwahrheiten um wirksame Mittel zur Beeinflussung handelt, war spätestens seit der Amtseinführung von Donald Trump am 20. Januar 2017 nicht mehr zu bestreiten. Deshalb besteht eine Dringlichkeit, den Umgang mit Fakten und der Wahrheitsfindung vor dem Hintergrund der Betrachtung der Historie zu diskutieren. Mit der zunehmenden Empfänglichkeit für Postwahrheiten wächst das Potenzial politischer Manipulation durch historische Analogien, die auf sogenannten alternativen Fakten beruhen. Erinnern ist ein Prozess, Erinnerungskultur das Ergebnis eines Diskurses. Das hört nicht auf einmal auf, verjährt nicht oder geht uns nichts mehr an. In diesem Zusammenhang gibt es nicht nur den 8. Mai als Tag des Erinnerns, sondern ist auch seit 1996 der 27. Januar offiziell der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. An diesem Tag jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers in Auschwitz. Björn Höcke von der AfD bezeichnete die deutsche Erinnerungskultur als lähmend, das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“.  AfD-Chef Gauland hatte im Juni 2018 beim Bundeskongress der AfD-Nachwuchsorganisation Junge Alternative im thüringischen Seebach erklärt: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.“

Ein halbes Jahr zuvor wurde die AfD in der Bundestagswahl 2017 zur drittstärksten Kraft gewählt. Erinnerung dient der Orientierung in einer Gegenwart zu Zwecken künftigen Handelns. Ein „Wehret den Anfängen“ ist dabei nicht mehr zeitgemäß, denn schließlich tritt Antisemitismus wieder offener in Erscheinung. Das verweist auf ein gesellschaftspolitisches Klima, in dem derartige Einstellungen gedeihen können. Sie werden über die Generationen hinweg durch Stereotype, Vorurteile und zeitaktuell angepasste Mythen über eine jüdische Weltverschwörung weitergegeben, begleitet von einem Nichtwissen oder gar einer Ignoranz gegenüber jüdischen Lebenswirklichkeiten und den Bedrohungen, denen Jüdinnen und Juden ausgesetzt sind. Umso wichtiger ist es, den 8. Mai als Anlass zur Reflexion zu nehmen. Umso wichtiger ist die kontinuierliche Dokumentation rassistischer und antisemitischer Einstellungen jenseits ihrer Leugnung. Der 8. Mai sollte uns also in diesem Zusammenhang zu denken geben.