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Gefährliche Guerillaaktionen – Punk und Protest gegen den Krieg in Russland

Der 30-jährige Aikhal Ammosov ist Mitglied der Punkrock-Band Crispy Newspaper1. Wegen angeblicher „Diskreditierung der russischen Armee“ drohen ihm 3 Jahre Gefängnis. Der Grund für das drohende Gerichtsverfahren ist, dass er vor dem Besuch des russischen Premierminister Mischustin am 26. August 2022 im Zentrum von Jakutsk ein Transparent mit der Aufschrift „Jakutischer Punk gegen den Krieg“ aufgehängt hat. Daraufhin wurde Ammosov zunächst für 15 Tage in eine Untersuchungshaftanstalt eingeliefert.

Crispy Newspaper aus Jakutsk
Crispy Newspaper aus Jakutsk

Aikhals richtiger Name ist Igor Iwanow. Im letzten Jahr hat ihn das Stadtgericht von Jakutsk2, der Hauptstadt der Republik Sacha, aufgrund eines Antikriegsverwaltungsartikels bereits dreimal zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubel verurteilt. Ende April hielt der Musiker eine Kundgebung in der Nähe einer Trauerfeier ab. Am Militärdenkmal zündete er eine Kerze an der Gedenktafel „Heldenstadt Kiew“ an. Außerdem sprühte er auf ein öffentliches Gebäude „Jakutsk wird frei sein“ und verteilte mehr als hundert Flugblätter in der Stadt.

Die Punkband, in der Aikhal spielt, hat es in den letzten Jahren geschafft, unabhängige Labelproduzenten, Tourist*innen und ausländische Reporter*innen an diesen abgelegenen Ort in Sibirien zu locken. Aber der russische Angriffs-Krieg hat alles verändert.
Die Aktionen von Ammosov waren auch überregional wirkungsvoll. Nicht nur in Jakutsk, einer Stadt mit 341 Tausend Einwohner*innen, sondern in ganz Russland erhielten diese Aufmerksamkeit. Damit begannen aber auch die Repressionen3: Am 25. April wurde er verhaftet und blieb fünf Tage lang in der Obhut der Spezialeinheiten  der Polizei.

„Als ich die Entscheidung für meine Aktionen traf, war ich mir bewusst, dass ich unangenehme Konsequenzen zu erwarten hatte“, erzählt Ammosov. „Ich habe meine Arbeit aufgegeben. Ich habe den Kontakt zu meinen Freund*innen abgebrochen, weil ich verhindern will,   dass andere darin verwickelt werden. Ich glaube jedoch, dass die Freiheit meiner Mitbürger*innen von meiner eigenen Geschichte abhängt, vor allem von Tausenden junger Menschen aus Jakutsk. Wenn sie mich verurteilen würden, wäre auch ihre Existenz weniger sicher.“

Ammosov behauptet, zu den Partisanen und Patrioten zu gehören, die wie er vor hundert Jahren für die Unabhängigkeit des Volkes von Sacha gekämpft haben und heute die Freiheit der Kunst als eine Form des Kampfes nutzen. „Ich bin in einer armen Familie aufgewachsen. Schon als Kind war ich mir der großen Unterschiede in unserer Gesellschaft bewusst. Heute denken manche vielleicht, ich sei ein abnormaler Punk, weil ich nicht trinke oder rauche. Aber wir haben hier unsere eigene Art, die Dinge zu verstehen. An erster Stelle stehen Bildung und Intelligenz. Das ist es, was wir Sakha-Punk nennen.“

„Alle Konflikte, die Russland anzettelt, verlaufen ähnlich tragisch. Sie sind sinnlos. Menschen sterben wegen der willkürlichen Launen und Machtgier von Beamt*innen und Oligarchen. Diejenigen, die an der Macht sind, beginnen die Aggression, und wir, die einfachen Menschen, zahlen den Preis.“

»Kriege müssen verhindert werden, nicht geschürt werden.«

Wenn Russland eine Diktatur ist, dann leben wir in Sacha in einer Ultra-Diktatur: Hier kann man für eine Meinung, die der „landesweiten“ Meinung widerspricht, wirklich hart bestraft werden. Die Menschen sind so grausam – wenn du allein zu einer Mahnwache gehst oder ein Anti-Kriegs-Graffiti malst oder Anti-Kriegs-Flugblätter klebst, musst du damit rechnen, dass dir Jede*r, der/die an dir vorbeigeht, Beine und Arme bricht.  Diese ultrakonservative Hardliner fahren Autos mit den Buchstaben Z und verprügeln alle, die nicht mit dem Krieg einverstanden sind. Ich bin gegen jeden Krieg. Es gibt keinen Grund, dafür zu sein. Jeder vernünftige Mensch ist gegen bewaffnete Konflikte. Wir haben alle Kriegsfilme gesehen. Wir haben sowjetische Filme gesehen. Krieg ist immer schlecht. Krieg bringt nichts Gutes. Nur Tod, Hunger und Armut. Das sind elementare Dinge, die sogar ein Kind weiß! Aber die Menschen sind so dumm, dass sie sagen, dass wir kämpfen müssen. Sie sagen, dass Krieg gut ist. Dass es früher oder später zwangsläufig dazu kommen wird. Kriege müssen verhindert werden, nicht geschürt werden. Ich bin kein Hippie und war nie ein friedliebender Mensch. Ich bin kein Pazifist, aber ich war noch nie für den Krieg. Ich habe viele Bücher über Kriege gelesen. Über den 2. Weltkrieg, den Krieg in Afghanistan, über Tschetschenien. Ich werde immer gegen Kriege sein. Die Anti-Kriegs-Stimmung ist unter den jungen Menschen in Jakutsk und der Region sehr stark. Unsere Jugend ist klug, aufmerksam, verantwortungsbewusst. Ich glaube an sie. Wahrscheinlich sind 95 % gegen den Krieg. Nur wenige sind dafür. Vielleicht wegen der Propaganda und den Einfluss der Eltern?! Es gibt mehr Befürworter*innen unter der älteren Generation. Aber auch sie beginnen zu verstehen, was los ist. Und sie sind auch auf unserer Seite. Die Menschen sind verwirrt. Sie wurden getäuscht. Die Menschen verstehen nicht, was sie da tun. Warum brauchen sie diesen Krieg? Alle wollen in Frieden leben. Jeder möchte in Frieden leben. Aber man sagt ihnen, dass er notwendig ist. Dass er erzwungen ist. Dass es keinen anderen Weg gibt. Es scheint, dass mein Prozess zu einem Schauprozess führt. Dabei wollen die Leute einfach nicht in den Krieg ziehen, weil sie Angst haben. Ich aber bin für die Politiker und Geheimdienste schuld, weil ich die Wahrheit erzähle. Dabei stehen schon viele Leute hinter mir: Arbeiter*innen, Taxifahrer*innen, die Jugend und Außenseiter*innen.

Yakutia.Info
Yakutia.Info

Die Anteilnahme und der Support sind groß. Sie schreiben mir aus Burjatien, Tuwa. St. Petersburger schreiben mir, helfen bei Spendensammlung. Kürzlich schickten sie zehntausend Rubel, um die Geldbuße zu begleichen. Junge Leute kamen auf der Straße auf mich zu, bedankten sich, sagten, dass sie mich unterstützen, dass sie meine Aktionen verfolgen, sie machten Fotos. Sie fragen viel, sie interessieren sich für Politik,  fragen, was in der Zukunft passieren wird, wenn der Krieg vorbei ist. Es gibt viele junge Menschen in Jakutsk, die mich unterstützen. Ich gehe zu Versammlungen, rede mit ihnen, höre mir ihre Ansichten an. Sie wollen sich zu Wort melden, aber niemand hört ihnen zu. Hier haben nur die Alten das Sagen, und die Jungen haben nichts zu melden. Die jungen Leute verlassen die Republik oder das Land auf der Suche nach einem besseren Leben und einer besseren Arbeit, weil sie hier keine normalen Bedingungen vorfinden. Das möchte ich gerne ändern. Damit die jungen bleiben und zurückkommen. Damit junge, tatkräftige und ehrgeizige Leute, die bereit sind, etwas zu tun und zu verändern, überall arbeiten können.

In Sacha gibt es noch eine Menge junger Menschen. Aber sie verschwenden nur kostbare Zeit und Energie. Sie sind unterwegs. Sie streiten, schlafen rund um die Uhr. Dabei wäre es möglich, diese Energie für das Positive zu nutzen. Wir würden eine Menge verändern. Jakutsk ist eine Stadt der Jungen, aber diese Stadt wird von verkrusteten alten Konservativen regiert. Wir sind die neue Generation. Die Generation der Neuen Romantiker. Nonkonformisten und leidenschaftliche Persönlichkeiten. Jetzt ist unsere Zeit gekommen. Dies ist unser Jahr. Jetzt schreiben wir Geschichte. Vorher bin ich schon zu Kundgebungen gegangen. Ich war zurückhaltend und verschlossen. Jetzt versuche ich, offensiv zu sein: Wenn die Leute das sehen, haben sie keine Angst mehr, sie werden inspiriert und fangen an, selbst zu handeln. Ich ebne gewissermaßen den Weg. Und ich sage, dass das jeder nachmachen kann. Im Verborgenen und anonym zu handeln ist klug. Aber in der Öffentlichkeit Aktionen durchzuführen, ist mutig und kühn. Und für den Mut zu bezahlen, komme ich vielleicht ins Gefängnis.“

Ammosov hat in verschiedenen Bands gespielt, aber sie haben sich alle aufgelöst. Sie existierten höchstens für ein oder zwei Jahre. Fast sein ganzes Leben lang hat er politische Texte über die jakutischen Realitäten geschrieben. Er machte sich über die Machthaber lustig und schreibt satirische Gedichte. Aber er hat sich auf niemanden verlassen, hat einfach intuitiv das getan, was er tun wollte.
„Wir haben unseren eigenen Punkrock-Stil erfunden. Wir erwarten keine Ermutigung, kein Lob, keinen Ruhm. Wir spielen nur für uns und unsere Freund*innen. Yakutsk ist das Seattle der 90er Jahre. Jakutsk ist das London der 70er Jahre. Nur der Punkrock gibt uns einen Hauch von Freiheit.“

Am 10. Dezember postete Aikhal ein Instagram-Foto von sich, auf dem er die Freilassung eines jakutischen Schamanen fordert, der in einer psychiatrischen Klinik festgehalten wird, nachdem dieser öffentlichkeitswirksame Proteste gegen Präsident Wladimir Putin inszeniert hatte.
Aikhal selbst sollte schließlich drei Tage später vor Gericht zur Anhörung wegen seiner öffentlichen Protest- und Plakat-Aktionen vor Gericht erscheinen.
Er erschien jedoch nicht vor Gericht. Seine Freund*innen und Mitstreiter*innen berichten, dass er spurlos verschwunden ist, obwohl er sich auf die Anhörung am 13. Dezember vorbereitet hatte.

Aikhals letzter Post auf Instagram
Aikhals letzter Post auf Instagram

„Ja, er wollte zum Gericht gehen“, sagte Ammosovs Mitstreiter Kyundel Ottuyev gegenüber RFE/RL's Siberia.Realities4. „Ich habe ihn im Herbst gefragt, ob er das Land verlassen wolle; er wollte nicht. Viele haben ihm geraten, zu fliehen, aber er hat sich immer geweigert. Er sagte: ‚Ich bin kein Feigling und werde bis zum Ende kämpfen‘. Er habe keine Angst vor dem Gefängnis.“

„Das Beängstigende ist, dass diese Verfahren gegen mich dazu benutzt werden, jeden zum Schweigen zu bringen, der für den Frieden ist“, sagte Ammosov im Mai gegenüber Siberia.Realities. „Sie erwischen Leute wie mich, und jede*r in Jakutsk bekommt Angst. Wir sind zu weit von Moskau und St. Petersburg entfernt. Hier gibt es keinen Schutz(...)Es gibt praktisch überhaupt keine Menschenrechtsverteidiger.“

Im Januar gab es dann plötzlich ein erstes Lebenszeichen. Aikhal Ammosow hatte zum ersten Mal seit seinem Verschwinden Kontakt mit der UNO aufgenommen und scheint sich an einem unbekannten Ort in Sicherheit gebracht zu haben. Aber nicht mal seine Mutter weiß, wo er sich derzeit aufhält.


Fußnoten:

1. https://youthofnorth.bandcamp.com/album/2022-3

2. Jakutsk, die wahrscheinlich kälteste Stadt der Welt mit Durchschnittstemperaturen im kältesten Monat Januar mit −43,2 °C, liegt in der Republik Sacha, der größten Teilrepublik der Welt, aber einer der am dünnsten besiedelten, mit etwas weniger als 1 Million Einwohnern, von denen ein Drittel in Jakutsk lebt. Die Sacha, ein Volk, das sibirische Turksprachen spricht, sind die Mehrheit in der Republik, was sich darin widerspiegelt, dass Crispy Newspaper in Sacha und nicht in Russisch singen. Ihre politischen Texte sprechen eine deutliche Sprache, wie das Leben in Sacha aussieht und wie es sich vom Rest Russlands unterscheidet.

3. Ein neuer Artikel 280.3 des russischen Strafgesetzbuchs verbietet es, gegen den Krieg zu sein; es sei „Diskreditierung der Armee“.

4. https://www.rferl.org/a/russia-antiwar-activist-disappears-yakutsk-/32182078.html