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Punk im Kalten Krieg

Mitte Dezember 1979 einigten sich die Allianz-Partner schließlich auf den sogenannten „NATO-Doppelbeschluss“: Als Antwort auf die SS-20 kündigte man an, in Mitteleuropa ebenfalls Mittelstrecken-Raketen vom Typ Pershing-II sowie „Tomahawk“-Marschflugkörper aufzustellen. 1982 scheiterten Verhandlungen zwischen der USA und der Sowjetunion in Genf über eine zahlenmäßige Begrenzung der Waffensysteme. Die angekündigte Stationierung der Pershings in Mitteleuropa nahm ihren Lauf und damit auch eine Protestbewegung in den USA und u. a. der Start einer Friedensbewegung in der Bundesrepublik. Zum Teil waren über hunderttausend Teilnehmer*innen auf der Straße, um gegen das Wettrüsten zu demonstrieren1.

Dessen ungeachtet befürwortete im November 1983 die schwarz-gelbe Regierung unter Helmut Kohl die Pershing-II-Stationierung in Deutschland. Unter Schlagworten wie „Künstler für den Frieden“ und „Rock für den Frieden“ fanden fortan in der Bundesrepublik und in der DDR weitere riesige Demonstrationen gegen die Stationierung von Pershing II und SS 20-Raketen statt. Seit Anfang der 1980er Jahre hatten die Oppositionsgruppen in der DDR immer stärkeren Zulauf. Eine wesentliche Ursache ist das von vielen Menschen als Bedrohung empfundene Wettrüsten der Supermächte. Viele DDR-Bürger*innen glaubten nicht, dass, wie es in den offiziellen Ostmedien immer heißt, allein hochgerüstete sozialistische Staaten den Frieden verteidigen können. In den Jahren 1982/83 gehen die Jugendlichen mit zahlreichen Aktionen in die Öffentlichkeit – bis sie verhaftet und in den Westen abgeschoben werden. Dennoch wurde die Friedensbewegung der DDR zur autonomen Keimzelle des friedlichen Umsturzes vom 1989.

Endzeitstimmung der frühen 80er

Anfang der 1980er bis Mitte der 1980er Jahre lassen sich zahlreiche Verweise in Songtexten deutscher Punkbands zu einer real existierenden atomaren Bedrohungslage und gegen Krieg und den NATO-Doppelbeschluss finden. Die 1979 in Minden gegründeten NEUROTIC ARSEHOLES haben auf ihrem Debütalbum „...bis zum bitteren Ende“ gleich mehrere Songs zum Thema geschrieben: Verloren und Vergessen, Was nun?, Alles kahl hier, Cruise Missile stehen explizit für eine real existierende Bedrohung des Kalten Krieges zwischen den USA und der UdSSR.


Neurotic Arseholes – Cruise Missile

»Cruise Missile, Marschflugkörper
Reichweite 2000 Kilometer
Ein Sprengstoff, größte Zielgenauigkeit.
Cruise Missile, der Tod ist nicht mehr weit.
Zerstörend, alles zerstörend.
Verderbend, alles verderbend.
Todbringend, sie bringt den Tod.
Versteck’ dich, doch sie wird dich töten!«


Auch die 1981 gegründete Punkband INFERNO thematisieren auf ihrem Debütalbum „Tod & Wahnsinn“ in einigen Songs wie „Life at war“, „Ziel Deutschland“, Tod und Zerstörung“, „Ronald Reagan“ Auswirkungen von Krieg und Kriegstreibern wie Ronald Reagan.
In einem Interview2 mit Sänger Archi Alert zu den Songs und Songtexten mit Bezug auf immer wiederkehrende Themen wie die atomare Bedrohung und das Wettrüsten zwischen USA und UDSSR, antwortete er:
„Die politische Situation in der Zeit war für alle Leute auf dem Globus bedrohlich. Beide Großmächte waren bewaffnet bis auf die Zähne und schon der kleinste technische Fehler hatte einen Krieg auslösen können, den diese Welt nicht überlebt hätte. Kein Wunder, dass wir uns da auch inhaltlich oft mit auseinandergesetzt haben. In erster Linie drückten wir allerdings unsere Ängste und Verständnislosigkeit aus.“


Punk against Reagan

1984 tat sich das von M.D.C.-Sänger Dave Dictor's betriebene Label R Radical Records mit der Maximum Rocknroll-Fanzine-Crew zusammen und stellte im Ergebnis dieser Zusammenarbeit mit „International P.E.A.C.E.-Compilation“ eine mit 55 Hardcore-Bands umfassende und bis heute legendäre Compilation zusammen. Der Hauptbeitrag von Maximumrocknroll zu dem Projekt bestand neben der Unterstützung bei der Auswahl von Bands für das Doppelalbum in der Zusammenstellung einer 72-seitigen Beilage in Magazingröße mit mehreren Seiten zu den Themen nukleare Abrüstung, Imperialismus, Feminismus, Radioaktivität, Umweltverschmutzung und politische Demonstrationen.
Der gesamte Erlös des Albums wurde für verschiedene Anti-Atomkraft-Gruppen und -Aktivitäten weltweit gespendet. Neben den musikalischen Beiträgen und dem beliegenden Magazin ist es vor allem die von der aus San Franciso stammende Künstlerin Dana F. Smith geschaffene  künstlerische, ausdrucksstarke Cover-/Back-Cover-Gestaltung, das als  eindrucksvolles und symbolträchtiges Aushängeschild und Statement gegen den Krieg zu interpretieren ist.


MDC

MDC im Jahr 2016
MDC im Jahr 2016

MDC ist eine US-amerikanische Punk-/Hardcore-Band, die im Jahr 1979 als The STAINS in Austin gegründet wurde. Als die Band 1982 nach San Francisco zog, benannten sie sich in MDC um. In den USA ist die Abkürzung MDC insbesondere für die Metropolitan Detention Center bekannt, eine Reihe lokaler Haftanstalten, in denen vor allem Untersuchungshäftlinge einsitzen. In der Folgezeit nutzen MDC immer wieder verschiedene Backronymen für diese Abkürzungen in ihren Albumtiteln: Millions of Dead Cops, More Dead Cops, Millions of Deformed Children, Multi Death Corporations, Millions of Damn Christians. In einem Interview äußerte sich Sänger Dave Dictor hierzu wie folgt:

„Die wechselnden MDC-Titel sind aus mehreren Gründen entstanden: Ich war unglaublich beeinflusst und ein großer Fan der britischen Band CRASS. 1982, nach einer Show in London mit „Subhumans“, wurden wir von Steve Ignorant in das Crass Farmhouse außerhalb von London eingeladen. Sie machten einen großen veganen Hirtenkuchen. Ich traf Penny, Mitglied dieses Kollektivs3. Penny wies darauf hin, dass intellektuelle Menschen den Namen der Band (gemeint ist MILLIONS OF DEAD COPS, Anmerkung d.Red.) verstehen würden, dass aber einige ihn auch als Aufforderung zum Mord an der Polizei missverstehen könnten, und das wollten wir nicht(…)“.4

Feindbild Ronald Reagan

Als amerikanischer Punk in den 1980er Jahren gab es zumeist eine klar definierte Feindbild-Liste, die sich wahrscheinlich kaum von anderen Punks auf anderen Teilen des Globus unterschied. Sie vereinte der Hass auf alles und jeden/jeder, der/die ihnen das vermeintliche Recht absprach, die Haare blau zu färben und gegen tradierte Werte und Normen aufzubegehren. Wurde die Wut zumeist in destruktive Gewalt oder in selbst-verletzende Verhaltensweisen kanalisiert, fand die amerikanische Punkszene am 20. Januar 1981 mit dem Amtsantritt von US-Präsidenten Ronald Reagan ein reales Hasssubjekt. Der ehemalige kalifornische Gouverneur und Filmstar war im Grunde eine Karikatur eines Konservativen aus den 1950er Jahren und galt fortan als Katalysator für eine kurzzeitige aufkeimende Anti-Reagan-Bewegung, die Punk, Protest und Politik verknüpfte. Hierzu seien insbesondere die „Rock Against Reagan“-Touren erwähnt. Während seiner Amtszeit 1981 bis 1989 inspirierte seine rechtsgerichtete Rhetorik und Politik, geprägt von einer populistischen-propagandistischen Mischung, die amerikanische Hardcore-Punk-Szene nachhaltig.

Nach Reagans Wahl zum US-Präsidenten im Jahr 1980 drückten auch viele Popmusiker*innen ihren Protest in ihren Liedtexten aus. In „(We Don't Need This) Fascist Groove Thang“ prangerte die britische Synthpop-Band Heaven 17 die Politik der britischen und amerikanischen Regierungschefs (Margaret Thatcher und Ronald Reagan) an. Der Text des Liedes verurteilt Rassismus und Faschismus. Das Lied wurde von der BBC aus dem Radio verbannt und erreichte trotz Verbot Platz 45 in den britischen Single-Charts. Zu Beginn seiner zweijährigen Präsidentschaft veröffentlichten Wasted Youth ihr Album „Reagan's In“ und „Over the Border“, die kanadische Band DOA pöbelte mit ihrem Track „Fucked Up Ronnie“. 1982 erschien das einprägsame „Hey Ronnie“ von Government Issue, 1983 der 45-Sekunden-Track „Reagonomics“ von DRI. „If Reagan Played Disco“ von den Minutemen aus Südkalifornien ist ein weiteres Beispiel für eine Anti-Reagan-Proteskultur in Punkbands:
„If Reagan played disco. He'd shoot it to shit. You can't disco in Jack boots. Born, born on a white horse. He'd sing lame lyrics And try to reach the working man.“


Born to die


„No war/ No KKK/ No fascist U.S.A.”

1983 organisierte die ‚Youth International Party‘ (auch bekannt unter THE YIPPIES) die „Rock against Reagan“ (RAR) Tour. Daran beteiligt waren Bands wie Reagan Youth aus New York, MDC und The Dicks aus Texas und DEAD KENNEDYS aus der Bay Area, San Francisco. Neben der Musik gab es Veranstaltungen, informative Filme zu Themen wie dem amerikanischen Imperialismus, politische Reden und sogar Comedy; die spätere populäre Komikerin und Schauspielerin Whoopi Goldberg trat 1983 während der Tournee im Dolores Park in San Francisco auf. Die Yippies der 1980er Jahre hatten Orte eingerichtet, an denen Punks von der anarchistischen Geschichte erfuhren und sich dafür begeisterten. Die Tour war nicht nur eine Ansammlung von Bands, die über die Abneigung gegen ihre Regierung sangen, sondern auch dafür sorgte, dass sich die Teilnehmer*innen registrieren ließen, um sich über Fragen rund um die Regierung zu informieren und warum dies als problematisch angesehen wurde.

Die 1983er RAR-Tour und die zahlreichen Demonstrationen konnten nicht verhindern, dass Reagan für eine zweite Amtszeit gewählt wurde. Dafür gab es weitere Songs mit Anti-Reagan-Motiven aus der amerikanischen Hardcore- und Punkszene. Und im Jahr 1984 eine weitere RAR-Tour. Die RAR-Bands tourten von 1983 bis zu den Wahlen im November 1984 durch die USA. Als The Crucifucks während des frühen Teils der RAR-Shows selbst auf Tournee waren, übernahmen Millions of Dead Cops (MDC) den Part des Hauptacts. Eine junge Moderatorin beschrieb die Band während einer Punkshow mit: „Die Gruppe ist für Leute, die anfangen zu denken/reflektieren/hinterfragen, was um sie herum passiert.“ Aber erst der Song „Born to die“ avancierte als Slogan für die Reagan-Demonstrationen in diesem Jahr: „No war/ No KKK/ No fascist U.S.A.”

"We begin bombing in five minutes!"

1984 erschreckte ein Witz des amerikanischen Präsidenten die Welt. Vietnam, kündete er scherzhaft an, würde er den Erdboden gleichmachen – ganz und gar, mit Städten, Wäldern und Flüssen, von oben bis unten. Noch einfacher, meinte er, wären natürlich ein paar Atombomben. Bei einem Tontest für die wöchentliche Samstagsansprache für das öffentlich-rechtliche Radio auf seiner Ranch, hat Reagan den anwesenden CBS- und Cable News Network-Mitarbeiter*innen ins Mikro gesprochen:
„My fellow Americans, I’m pleased to tell you today that I’ve signed legislation that will outlaw Russia forever. We begin bombing in five minutes.“
„Meine amerikanischen Mitbürger, ich bin erfreut, Ihnen heute mitteilen zu können, dass ich ein Gesetz unterzeichnet habe, welches Russland für immer für vogelfrei erklärt. Wir beginnen mit der Bombardierung in fünf Minuten.“
Am Ende der Testaufnahme ist Gelächter zu hören.

Der Sampler

1984 erschien der essenzielle Sampler mit den angesagtesten Punkbands der damaligen Zeit, darunter natürlich MDC, sowie Dead Kennedys, Crass, D.O.A., Butthole Surfers, The Dicks, D.R.I., False Prophets und Subhumans aus Amerika, England, Italien, Dänemark, Argentinien, Deutschland, Spanien, Japan und Südafrika auf R Radcial Records. ARTICLES OF FAITH aus Chicago mit Sänger Vic Bondi starten die A-Seite mit dem stürmischen, schnellen „Up against the wall“. Es folgen weitere tolle Bands und Songs wie NEON CHRISTs „Ashes to Ashes“ und die legendären holländischen BGK mit dem dröhnend-stumpfen Sound und „Arms Race“.
Die B-Seite hat mit UPRIGHT CITIZENS („Swastika Rats“), MOB 47 aus Schweden mit der Speedattacke „Nuclear Attack“, OFFENDERS mit dem gnadenlos wummernden Riffing in „Face down in the dirt“ sowie mit D.O.A. aus Kanada und ihrem melodischen „America the beautiful“ ihre Höhepunkte. Auf der 4. Seite gibt es mit ZENZILE aus Südafrika einen spoken word-Beitrag, der neben dem Beitrag von BARELY HUMAN und dem wavigen „No Mercy No War“ aus der Reihe schlagen.  
Bei der Auswahl der Bands fällt auch auf, dass mit NEGAZIONE, CCM, WRETCHED, PEGGIO PUNX, IMPACT u. a. die italienische HC-Szene stark vertreten war.
Jeder Act stand eine Seite zur individuellen Gestaltung zur Verfügung. Zu sehen sind Collagen, Interviews, Comics und Zeichnungen, die die politischen Botschaften und Textinhalte verstärken.

Der Sampler skizziert im Wesentlichen auch die aufblühende europäische HC-Punk-Szene, die Mitte der Achtziger Jahre explosionsartig zunahm und geprägt war von einem DIY-Lifestyle, Hausbesetzungen, politischem Aktivismus: Es gab das EMMA in Holland, BLITZ-Squat in Norwegen, das AJZ in Bielefeld, das Crash in Freiburg Deutschland und das VIRUS in Mailand, zahlreiche weitere Squats, Freiräume mit selbstorganisierten Konzerten und befreundeten Bands. Der europäische Hardcore existierte in den 1980er Jahren noch als ein intaktes Netzwerk als alternatives Lebensmodell.5

»Es war so aufregend, Punks auf der ganzen Welt miteinander zu verbinden. Es gab kein Internet, wir mussten selbst auftauchen und andere finden. Dies sind die Pionierbands des politischen Hardcore-Punks, die den Weg für so viele Punkszenen auf der ganzen Welt geebnet haben.«

Dave Dictor – MDC


Die CD-Wiederveröffentlichung

1997 veröffentlichte das Label New Red Archives das Album als Doppel-CD unter dem Titel „P.E.A.C.E./War“ und fügte am Ende der zweiten Disc fünf Titel von Künstler*innen aus dem eigenen Backprogramm hinzu, was den ursprünglichen politischen Anspruch ad aburdum führt. Die Neuauflage enthält keine Reproduktion des Booklets der Erstveröffentlichung, und warum der ursprüngliche Name geändert wurde, ist nicht bekannt. Und auch ob der Benefiz-Aspekt im Original noch ihre Gültigkeit besitzt, ist eher unwahrscheinlich.
Der Erlös der ursprünglichen Compilation auf R RADICAL RECORDS wurde an Anti-Atom-Gruppen wie die Clamshell Alliance, die den Großen Friedensmarsch 1986 organisierten/durchführten, an dem MDC teilnahm, und die Greenham Women's Peace Group geschickt. Außerdem wurde Greenpeace, Sea Shepherd, Food Not Bombs, Seeds of Peace (eine aktivistische KüFa, die Demonstrant*innen in Mercury Nevada unterstützt), Big Mountain, Navajo-Gruppen, die den Uranabbau bekämpfen und jetzt gegen Fracking auf Navajo-Land kämpfen, Tractors For Nicaragua (Nahrungsmittelhilfe), die African National Congress (kämpfte damals gegen Apartheid), Global Wildlife Federation, das Orang-Utan-Projekt, und PETA unterstützt.
Im Jahr 2020 veröffentlichte Dave Dictor auf dem von ihm mitbegründeten Label ‚Grimace Records‘ eine Wiederveröffentlichung als CD mit Booklet und abgewandeltem Cover.


Fußnoten:

1. Der Protest gegen nukleare Aufrüstung und das Ost-West-„Raketenschach“ mobilisierte Anfang der 1980er-Jahre Hunderttausende. Die erste große Demonstration der westdeutschen Friedensbewegung fand am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten mit 500.000 Menschen statt.

2. https://www.underdog-fanzine.de/2014/01/04/inferno/

3. Penny Rimbaud (namensgebend war der Dichter Arthur Rimbaud) gilt als ideologischer Mentor und Initiator des anarchistischen Konzepts von CRASS.

4. https://vwmusicrocks.com/an-interview-with-dave-dictor-of-mdc/

5. Mehr dazu: NETWORK OF FRIENDS – Helge Schreiber (Buch, Salon Alter Hammer)
ISBN: 978-3-940349-06-4